Neue Fragen einer vielfältigen Gesellschaft

Wie schaffen wir Integration? Wie gehen wir mit Kräften der gesellschaftlichen Spaltung um, wie Rechtsnationalismus, Rechtspopulismus oder religiösem Fundamentalismus? Wie sieht Geschlechtergerechtigkeit in einer Zeit neuer Umwälzungen aus? Diese und viele weitere Fragen wollen wir in unserem Programmprozess mit der gesamten Gesellschaft diskutieren. Hier gibt es einen Überblick zum Themenbereich 'Vielfältige Gesellschaft' - mit ersten Leitfragen und Workshopergebnissen vom Startkonvent zum Grundsatzprogramm.

Unser Zusammenleben wird immer bunter und vielfältiger. Das liegt zum einen daran, dass sich für immer mehr Menschen in den vergangenen Jahrzehnten die Möglichkeit eröffnete, selbstbestimmt und selbstbewusst unterschiedlichsten Lebensentwürfen zu folgen. Zum anderen wird unsere Gesellschaft vielfältiger durch neue Migration, die das Einwanderungsland Deutschland prägt. Doch Vielfalt bedeutet Anstrengung und verlangt von jedem Einzelnen etwas ab. Wir Grünen waren immer die Partei der Selbstbestimmung. Aber wir haben gelernt, dass Freiheit ohne Sicherheit nicht funktioniert. Einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu schmieden, bedeutet die Probleme anzugehen, die sich ergeben, wenn unterschiedliche Perspektiven und Interessen immer wieder mühsam ausgeglichen und verhandelt werden, manches Mal auch ohne Erfolg.

Um das friedliche Zusammenleben der Unterschiedlichen zu sichern, braucht es ein Halt bietendes neues gemeinsames Wir, das unter Menschen unterschiedlichster Prägung und Traditionen Solidarität und für alle ein sicheres Zuhause ermöglicht. Wie können wir Grünen die Zahl derer minimieren, die sich nicht gehört fühlen? Wie können wir ihre Geschichten erzählen, Zugehörigkeit schaffen und sie zu gleichberechtigten Akteuren unserer gemeinsamen Geschichte machen? Welche Voraussetzungen braucht gelingende Integration? Wo setzt Humanität an? Doch wohl nicht erst auf deutschem oder europäischem Boden?

Zur Ambivalenz unserer Zeit gehört jedoch auch, dass trotz aller Erfolge und trotz der enormen Freiheit, die wir alle genießen, eine gleichberechtigte Gesellschaft noch in weiter Ferne liegt. Noch immer prägen uns alte, ja archaische Rollenbilder. Sexuelle Gewalt ist längst kein Gespenst vergangener düsterer Zeiten. Politische und ökonomische Macht ist weiterhin höchst ungleich verteilt, zwischen den Geschlechtern, zwischen Bio-Deutschen sowie Migrantinnen und Migranten oder zwischen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Das Ende der Geschichte ist für Emanzipationsbewegungen auch bei uns längst noch nicht erreicht.

Wir wollen ein Morgen gestalten, in dem Ausgrenzung und Hass keine Chance haben und wir die Demokratie neu stärken, um so Nationalismus, neuen Faschismus und Fundamentalismus zu beenden. Es soll ein friedliches Zusammenleben sichern, neue Solidarität zwischen Unterschiedlichen organisieren sowie Zusammenhalt auch in der Vielfalt ermöglichen.

Leitfragen und Workshopergebnisse

Um den Einstieg in die Debatten zu erleichtern, hat der Bundesvorstand die Vielzahl der Themen in sechs Bereiche geordnet und jeweils Leitfragen erarbeitet. Denn wir stehen erst am Anfang, und am Anfang stehen Fragen, keine Antworten. Auf dem Startkonvent am 13. und 14. April 2018 haben wir in Workshops zu den einzelnen Themen offen debattiert. Hier gibt es die Leitfragen und ersten Workshopergebnisse zum Thema 'Vielfältige Gesellschaft'.

Leitfragen: Vielfältige Gesellschaft

Welches „Wir“ kann in einer universalistischen Gesellschaft die Kraft entfalten, ein Zuhause, Anerkennung und Selbstbestimmung für alle zu garantieren?

Wie verteidigen wir die Demokratie und den demokratischen Rechtsstaat, wenn Autoritarismus und Menschenhass Zulauf erhalten?

Wie schaffen wir Integration? Wie sichern wir das friedliche Zusammenleben, wenn sich in der vielfältigen Gesellschaft Perspektiven, Voraussetzungen, Einstellungen, Rechtsempfinden und Gewohnheiten multiplizieren? Wie gehen wir mit Kräften der gesellschaftlichen Spaltung um, wie Rechtsnationalismus, Rechtspopulismus oder religiösem Fundamentalismus? Wie gehen wir als Gesellschaft damit um, wenn in der Zukunft immer mehr Menschen bei uns Schutz suchen?

Ist die gewachsene föderale Sicherheitsarchitektur noch angemessen in einer Zeit diffuser neuer Gefährdungslagen?

Wie sieht Geschlechtergerechtigkeit in einer Zeit neuer Umwälzungen aus? Welche Rolle spielen Politik und Staat in Bereichen wie Körperpolitik und Sexismus? Wie agieren wir hier im Spannungsverhältnis von Freiheit und Geschlechtergerechtigkeit? Wie bringen wir avantgardistische Forderungen und klassische frauenpolitische Themen zusammen? Wie sichern wir Frauen vor Armut im Hier und Jetzt sowie im Rentenalter, wenn Automatisierung in der Arbeitswelt vor allem Frauen treffen kann?

Wie reagieren wir auf die Herausforderung einer alternden Gesellschaft für Sozialsysteme, öffentliche Räume, Kinder, Familien, für die Einwanderungspolitik? Wie sichern wir die Rechte von Kindern und Jugendlichen in Zeiten demografischen Wandels?

Wie schützen wir die parlamentarische Demokratie, wenn ihre Feinde deren Regeln missachten und ihre Verfahren kapern?

Workshop: Unsere Strategien gegen Rechts und die Bedeutung von Feminismus

Workshopleitung: Gesine Agena und Ricarda Lang
Input: Samuel Salzborn


1. Welches sind im Themenbereich die am dringlichsten diskutierten Fragen und welche Antwortmöglichkeiten oder Konfliktlinien haben sich in der Debatte herausgebildet?

In der Diskussion hat sich ergeben, dass es nicht nur darum geht, die Demokratie vor den Rechten zu retten, sondern sie insgesamt zu stärken. Dabei ergeben sich folgende Fragen: Wie können wir für Demokratie begeistern, Teilhabe stärken und Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzeigen? Wie können wir ein progressives Leitbild für gesellschaftlichen Zusammenhalt entwickeln und auch kommunizieren? Ist die Definition eines „Wir“ dafür überhaupt notwendig? Nicht nur negative Gefühle wie Hass oder Angst lassen sich emotionalisieren, wie es die Rechten gerade tun. Wie können wir es schaffen, Verantwortlichkeit zu emotionalisieren? Es ist wichtig ein positives Narrativ von Demokratie zu schaffen und die Erzählungen hervorzuheben, die dazu führen, dass Menschen mit vielfältigen biografischen Hintergründen sagen: "Das ist meine Gesellschaft und ich fühle mich verantwortlich."

2. Welcher Aspekt, welche Meinung oder welches Argument in der Debatte war am überraschendsten?

Die feministische Bewegung ist aktuell global gesehen die Bewegung, die das größte Potenzial hat, dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen. Die Bedrohung durch den Antifeminismus im rechten Denken liefert dafür Grund zu Mobilisierung. Im Feminismus besteht zudem die Möglichkeit der politischen Artikulation. Die feministische Bewegung bietet virtuell und real die Möglichkeit zu einer neuen globalen und sozialen Bewegung zu werden. Diese Möglichkeit muss aber vor allem im deutschsprachigen Kontext noch stärker voran gebracht werden, dabei sind auch wir Grüne in der Verantwortung. Auch hier dürfen wir aber nicht im verteidigenden Modus bleiben, sondern müssen Machtfragen (auch ökonomische) noch stärker ins Zentrum unseres Feminismus rücken.

3. Welche Fragen und welche Lösungsansätze sollten die GRÜNEN im Grundsatzdebattenprozess weiterverfolgen?

Der weitere Prozess sollte sich stark an universalistischen Grundwerten orientieren, emanzipatorische Gesellschaftsbilder nach vorne stellen, progressive feministische Forderungen formulieren und die Vision der Geschlechtergerechtigkeit hochhalten. Sie sollten eine mitnehmende Positiverzählung von Demokratie und Verantwortlichkeit für die Gesellschaft als Grundvoraussetzung von Zusammenhalt schaffen.

Workshop: Wo geht’s denn hier zum zufriedenen Leben in Vielfalt?

Workshopleitung: Katrin Göring-Eckardt

Als zentrale Fragen für die weitere Debatte ergaben sich: 'Wer soll eigentlich integriert werden?' Dabei gab es viele, die dafür warben, nicht einfach nur in Zugehörigkeitsgruppen zu denken. Stattdessen sei es Aufgabe, auf alle zu achten, die sich von der Gesellschaft abkoppeln, egal welcher Herkunft. Auch die Frage, wie Begegnung im öffentlichen Raum gefördert werden kann, sollte im Grundsatzprozess laut Workshop debattiert werden. Viele sahen in dem Begriff "Heimat" eine Chance, um Zusammenhalt zu schaffen, sofern niemand ausgeschlossen würde. Wichtigster und am intensivsten diskutierter Aspekt der Debatte war: Wir sollten nicht von Integration reden, da es nicht um das Einfügen in eine bestehende, homogene Gruppe ginge. Stattdessen sollte die Klammer das Themas Teilhabe sein, die für alle möglich sein müsse.