Grüne Vorhut für die Breite der Gesellschaft

Es braucht eine Partei, die vorausdenkt, damit die Politik ihre Gestaltungskraft wiedererlangt. Aber wir müssen Bindekraft über unser Milieu hinaus entwickeln. Wir müssen das ehemals sozialdemokratische Versprechen von Fairness und Solidarität in einer extrem individualisierten Gesellschaft erneuern. Das ist der Arbeitsauftrag für die Grünen - als linksliberale, soziale und ökologische Kraft, progressiv und europäisch, finden Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Die Grünen sind aus einem Störgefühl heraus entstanden. Da war eine Politik, die keine Antworten auf das hatte, was sich in der Gesellschaft anbahnte: Auf das Verlangen nach Frieden und Freiheit, nach gleichen Rechten für Frauen, für Homosexuelle, für Minderheiten, auf die Sehnsucht nach Aufbruch. Eine Politik, die die Fragen nach unseren Lebensgrundlagen ignorierte. Diese begrenzte Politik haben wir aufgebrochen, als Vorhut, radikal, fordernd, damit das Land ökologischer, freier, gerechter wird.

Jetzt stehen wir wieder da mit dem Störgefühl, dass die Politik der Welt hinterherläuft. Aber die Vorzeichen sind andere: Die Welt ist in Unordnung, die alten politischen Lager zerbröseln, die Volksparteien stecken in der Krise. Wahrscheinlich bekommt Deutschland, wenn die SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag stimmen, noch einmal eine Große Koalition. Aber sie ist nicht mehr Hort der Stabilität; die GroKo ist ein Notlager, irgendwie zusammengezimmert aus alten, noch vorhandenen Latten und rostigen Nägeln.

Radikalere Antworten, um Halt zu bieten

Trotz Nuancen in der Programmatik verlaufen die Konfliktlinien der politischen Debatte nicht mehr allein entlang des alten Rechts-Links-Schemas, zwischen Kapitalismus versus sozialer Einhegung der Marktwirtschaft. Neu dazugekommen ist die Auseinandersetzung zwischen Liberalität und Illiberalität. Die einen leben eine kulturelle Öffnung der Lebensformen, in denen jede und jeder nach seiner Fasson glücklich wird, man lieben kann, wen man will, eine Hypermoderne, die die alten Normen, Werte, Bekenntnisse aufhebt. Die anderen wollen eine kulturelle Schließung, neue identitäre Einheiten, einen Neo-Nationalismus, einen religiösen Fundamentalismus.

Und viele haben in der neuen Unordnung die Orientierung verloren. Und dass sie im Status Quo Halt suchen, ist verständlich. Angesichts der globalen Turbulenzen braucht es aber Veränderungen, damit uns das Neue nicht wegspült. Es braucht eine Partei, die vorausdenkt, damit die Politik ihre Gestaltungskraft wiedererlangt. Wir müssen uns also radikalere Antworten zutrauen, um Halt zu bieten.

Leere der kriselnden Volksparteien füllen

Die Grünen können damit an ihre ursprüngliche Rolle anknüpfen – die der Vorhut. Aber hinzu tritt ein neuer Anspruch: Denn da, wo früher einzelne Lücken auftraten, hinterlassen die kriselnden Volksparteien heute eine gähnende Leere. Wenn wir diese Leere füllen wollen, müssen wir eine Politik für die Breite der Gesellschaft bieten. Nicht alle müssen uns in allem Recht geben und wir müssen nicht in allem Recht haben. Aber wir müssen Bindekraft über unser Milieu hinaus entwickeln und dafür auch bereit sein, Kompromisse zu schließen. Wenn zwei Drittel der Gesellschaft die Klimakrise als größte Gefahr sehen, wir aber nur neun Prozent der Stimmen bekommen, müssen wir für neue Mehrheiten arbeiten.

Ökologische Fragen sind soziale Fragen

Entsprechend steht für uns an, die unterschiedlichen, teils auch widersprüchlichen Aufgaben zu verbinden. Zunächst die Ökologie mit dem Sozialen: Die ökologischen Fragen – Klimakrise, Zugang zu Wasser, Nahrung und Ressourcen, Erhalt von Lebensgrundlagen – sind soziale Fragen. Sie entscheiden darüber, wie – und ob – Menschen leben können. An den lauten, von den Stickoxiden der Verbrennungsmotoren besonders betroffenen Straßen wohnen diejenigen, die sich kein Haus in der ruhigen Seitenstraße leisten können. Es sind die Ärmsten der Armen, die kein fruchtbares Land mehr haben oder kein Wasser und daher zur Flucht gezwungen werden. Ja, an der Kohleindustrie und auch am fossilen Verbrennungsmotor hängen viele Jobs. Doch wenn die Transformation dieser Industriezweige nicht klar strukturiert, staatlich flankiert und gemeinsam mit den Beschäftigten angegangen wird, wird der plötzliche Bruch kommen. Und er trifft nicht den Vorstandschef, sondern die am wenigsten Qualifizierten am stärksten.

Wir müssen die digitale Welt zivilisieren

So, wie die Sozialdemokratie einst die industrielle Revolution gebändigt hat, müssen wir nun die digitale, postmoderne Welt zivilisieren. Der gravierende Unterschied zu früher ist, dass die industrielle Revolution viele Menschen gleich machte: Es entstand eine Arbeiterklasse, die im Kern gleiche Lebensumstände hatte und für die die Sozialdemokraten Rechte und Sicherheiten, Bildung und Aufstiegschancen erkämpfen konnten und erkämpft haben.

Im sozialdemokratischen Zeitalter vereinigten Volksparteien unterschiedliche Interessen unterschiedlicher Milieus und Gruppen. Arbeiter, Angestellte, Protestanten, Katholiken, Norddeutsche, Süddeutsche, sie alle wurden integriert. Das Individuelle wurde verallgemeinert. Das war eine große Leistung! Die digitale Revolution dagegen macht unsere Leben immer singulärer, die Gesellschaft löst sich auf in lauter neue Gruppen und Untergruppen. Heute schaffen es aber die Volksparteien nicht mehr, die disparaten Lebensstile zu einer gesellschaftlichen Idee zusammenzubinden.

Die Arbeitswelt wird sich radikal ändern: Roboter werden nicht nur einfache Arbeiten übernehmen, sondern auch die okay bezahlten Jobs im Dienstleistungsbereich ersetzen. Arbeitsverträge werden befristet, Firmen global gehandelt und verkauft. Man kann das alles elend finden und darauf setzen, dass eine nationale Abschottung die Lösung ist. Aber die Folgekosten werden hoch sein, nicht nur gesellschaftlich, sondern auch wirtschaftlich. Die Alternative ist, an Fortschritt und Globalisierung festzuhalten – beides aber ökologisch und sozial zu gestalten.

Versprechen von Fairness und Solidarität erneuern

Vor diesem Hintergrund bedeutet links, das ehemals sozialdemokratische Versprechen von Fairness und Solidarität in einer extrem individualisierten Gesellschaft zu erneuern. Wir müssen die allgemeinen Bedingungen so reformieren, dass die unterschiedliche Lebensweisen zueinander finden können.

Menschen brauchen eine Grundsicherheit, die ihnen in unterschiedlichen Lebenslagen Würde und Anerkennung wahrt. Wir können daher noch jahrelang am Hartz-IV-System, das den Wert eines Lebens allein vom Erfolg in der Arbeitswelt ableitet, herumdoktern – es geht nur immer mehr an der Realität vorbei. Wenn Kinderarmut entsteht, weil Familien an der Bürokratie scheitern und ihre Ansprüche nicht mehr anmelden, wenn Kinderkriegen zur Armutsfalle wird, wenn die Flexibilität der Arbeitswelt die Seele auffrisst, wenn der Arbeitsmarkt global ist, dann stellt sich auch die Frage der sozialen Sicherheit neu.

Da kommen dann die radikalen Fragen: Kann es einen Anspruch auf Auszahlungen von Sozialleistungen geben, eine negative Einkommenssteuer? Wenn Roboter und Maschinen die Arbeit machen, sollten die Firmen, die sie einsetzen, sich dann nicht auch darüber an der Finanzierung unseres Gemeinwesens beteiligen? Wenn Arbeit unter Druck gerät, aber ein Wert ist, müssen wir nicht den Abgabedruck auf menschliche Arbeit mindern? Und wie schaffen wir es endlich, dass umweltschädliche Industrien statt subventioniert zu werden, endlich für die Umweltschäden zahlen müssen?

Starke Institutionen und starke Infrastruktur

Durch ein neues Sozialstaatsverständnis können wir Halt in unser entgrenzten Welt geben. Wenn wir verhindern wollen, dass Armut und Frust sich verfestigen, dass Menschen sich abgehängt fühlen oder es sind, brauchen wir eine Renaissance des Gemeinwohlgedankens: starke Institutionen und eine starke Infrastruktur, von Kindergärten über Schulen, von Bussen über die ärztliche Versorgung, besonders in den Dörfern und strukturschwachen Regionen. So simpel das klingt, so schwer wird es sein. Muss nicht – wie bei Bildung und Breitbandausbau – der Bund eine stärkere Rolle bei der Daseinsvorsorge spielen können, damit wir dem Anspruch, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, wieder gerechter werden? Und damit Städte und Gemeinden wieder stärker zum Fixpunkt für den sozialen Zusammenhalt werden können?

Wer ein Land durch Nationalismus "great" machen will, macht es klein

Die Stärkung des Gemeinwohls ist gerade für liberale Parteien von großer Bedeutung. Denn in der Auseinandersetzung zwischen einem autoritär-völkischen Weltbild und einem linksliberalen machen sich die Rechten – und inzwischen auch die Linksnationalen - eines zunutze: Sie spielen Mehrheit gegen Minderheit aus. Sie suggerieren, dass offene Grenzen und Handel nur „den anderen“ nutzen – dem Nachbarn mit dem besseren Einkommen, den Großkonzernen, die Steuern sparen, oder den „Fremden“, die kommen. Ihre Antwort auf die Probleme ist, dass man sich besser abschotten sollte, um das bisher Gewesene zu bewahren. Allerdings fährt der Bus auch nicht, wenn die Grenze zu Österreich dicht bleibt, es zahlt deshalb auch noch kein Konzern Steuern und kein Unternehmen erhält deshalb einen Arbeitsplatz. Diese Probleme haben ihren Ursprung nicht in der Öffnung der Grenzen im Jahr 2015, sondern in den neoliberalen Deregulierungswellen der Vergangenheit.

Liberalität schafft Zusammenhalt

Wer ein Land „great“ durch Nationalismus machen will, macht es in Wahrheit klein. Umgekehrt müssen wir kleiner denken, um Größeres hinzubekommen. Wir müssen Raum schaffen für das individuelle Glück, gleich woher jemand kommt, wie er aussieht, wen er liebt, gleich, ob er in Städten mit überhöhten Mieten wohnt oder in sterbenden Dörfern. Die Antwort auf die identitäre, nationalistische Politik ist deshalb nicht, die Muster von abgegrenzten Gruppenidentitäten zu verstärken. Stattdessen müssen wir im Widersprüchlichen das Verbindende suchen. Wir müssen es schaffen, dass Menschen sich individuell angesprochen fühlen und sie darüber für das Gemeinsame gewinnen. Das ist dann die Alternative zur Ausgrenzung: Illiberale Politik spaltet. Liberalität schafft Zusammenhalt.

Nur europäisch bleiben wir handlungsfähig

Wir werden die Fragen von Sicherheit und Frieden, von Wohlstand, Arbeit und Umweltschutz nicht lösen, wenn wir im nationalen Raum steckenbleiben. Das alles geht nur europäisch, weil der Nationalstaat zu klein ist, um das Große allein zu regeln: Nur so werden wir handlungsfähig bleiben.

In diesem Sinne sind wir Grünen eine linksliberale, soziale und ökologische Kraft, progressiv und europäisch. Vorhut für die Breite der Gesellschaft. Darin steckt ein Widerspruch, ja. Aber ihn aufzulösen, das ist unser Arbeitsauftrag.

Porträtfoto von Annalena Baerbock.

© Urban Zintel

Annalena Baerbock

Parteivorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Porträtfoto eines Mannes.

© Nadine Stegemann

Robert Habeck

Parteivorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN