Interview

"Wir wollen die Schuldenbremse durch eine Investitionsregel ergänzen"

Portrait von Robert Habeck
© Urban Zintel

Im Interview mit der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung fordert Robert Habeck mehr Investitionen für den Aufbau von neuem volkswirtschaftlichem Vermögen. Durch eine Investitionsregel könnten zum Beispiel Renovierungen von Schulgebäuden, Glasfaserausbau und eine Neugestaltung des öffentlichen Raums ermöglicht werden.

Erstveröffentlichung „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" am 23.05.2021

Herr Habeck, fragen wir doch mal den möglichen grünen Finanzminister: Ist es wichtig, dass die Grünen dieses Ressort besetzen?

Wichtig ist, dass wir die Wahl gewinnen, also stark werden und in der Regierung großen Einfluss haben. Punkt.

Die Grünen gelten als die postmaterialistische Partei schlechthin. Es galt immer als ein bisschen unfein, über Finanzen zu reden – im Guten wie im Schlechten. Haben die Grünen überhaupt ein Verhältnis zum Geld?

Es ist doch albern, Grüne als eine andere Sorte Menschen zu beschreiben. Parteimitglieder engagieren sich politisch für ihren Ort, für Klimaschutz oder einen Radweg und landen so halb aus Zufall, halb aus Überzeugung bei den Grünen. Sie kaufen auch bei Aldi ein und fliegen mal in den Urlaub – wie andere. Und was das Verhältnis zu Geld anbetrifft, ist es bei Grünen so unterschiedlich wie bei anderen Menschen auch: Die einen haben Sorgen, andere haben Stress mit der Steuererklärung, wieder andere sind sehr sparsam. Im Übrigen besetzen wir in drei Ländern das Finanzressort.

Für viele Grüne scheint das Prinzip zu gelten: Billig ist schlecht, teuer ist gut – vom Fliegen bis zum Fleischkonsum.

Beim Fliegen sind in der vergangenen Woche ein paar Argumente durcheinandergeraten. Im Kern geht es darum, umweltschädliches Verhalten nicht noch steuerlich zu begünstigen. Darüber hinaus leben wir in einem freien Land. Wir wollen nicht bessere Menschen erziehen, sondern bessere Politik machen. Neben Ordnungsrecht und Fördergeldern sind die Steuern nun mal ein wichtiges Lenkungsinstrument für die anstehende ökologische Transformation. In bestimmten Bereichen steigen dadurch die Preise, ja, und wir haben daher politisch den Job, das sozial ausgewogen hinzubekommen.

Beim Fliegen gibt es schon die Luftverkehrsteuer und den europäischen Emissionshandel. Wie weit muss das noch gehen, bis Fliegen aus Ihrer Sicht den angemessenen Preis hat?

Der Unterschied zur politischen Konkurrenz wie etwa der FDP liegt darin, dass wir nicht alles nur über den Preis steuern wollen. Sonst würden bestimmte Formen von Mobilität und Konsum tatsächlich zu einem Luxusgut. Das Fliegen ist ein gutes Beispiel, weil jedem einleuchtet, dass ein Flug von Stuttgart nach Frankfurt nicht so sinnvoll ist. Aber es ist maßlos übertrieben, die gesamte klimapolitische Debatte auf Kurzstreckenflüge zu konzentrieren. Auffällig ist: Manche Politiker entdecken ihr soziales Herz immer nur, wenn es um die Umweltpolitik geht. Statt das soziale Problem am Fliegen festzumachen, sollten sie besser für höhere Löhne und angemessene Sozialleistungen streiten. Das wäre glaubwürdiger.

Mancher findet eben, dass niedrige Preise auch Sozialpolitik sind. Kann es sein, dass den Grünen mit ihrem eher akademischen Milieu die Preise nicht so wichtig sind?

Ich habe nichts gegen niedrige Preise. Ich möchte nur nicht, dass unser sauer verdientes Geld dafür ausgegeben wird, dass wir ökologische Schäden auch noch fördern. Die Steuern nehmen wir doch besser und unterstützen damit umweltfreundlichen Konsum. Wie sich dann Preise entwickeln, entscheiden in erster Linie Angebot und Nachfrage. Und vor allem sind doch die Einkommen wichtig. Die Volkswirtschaft würde besser funktionieren, wenn mehr Menschen von ihrer Hände Arbeit leben könnten, und zwar gut.

Neulich stand ich vor einer Bio-Fairtrade-Kaffeebar im grünen Kreuzberg, da pöbelte ein Handwerker die Wartenden an: Ob sie alle zu viel Zeit und Geld hätten, um sich für überteuerten Kaffee anzustellen. Gibt es da einen kulturellen Clash zwischen grünem Milieu und gewöhnlichen Leuten?

Das steht zu befürchten, wenn Klimaschutz zu einer Lebensstilfrage gemacht wird. Wenn es vor allem um die Frage geht: Bist du ein Snob Mensch, weil du Hafermilch kaufst? Bist du ein schlechterer Mensch, weil du ein altes Auto hast? Wenn wir in diese Dimension abgleiten, dann kann man nicht mehr rational diskutieren, geschweige denn Lösungen finden. Und die Tendenz dazu gibt es auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Nachhaltigkeit auch in der Finanzpolitik war bei den Grünen mal ein großes Thema. Der kommenden Generation keine Schulden zu hinterlassen, stand eine Zeit lang fast auf einer Stufe mit dem Umweltschutz. Jetzt wollen Sie auf einmal die Schuldenbremse aufweichen. Warum?

Wir wollen die Schuldenbremse reformieren, weil Deutschland seit langer Zeit zu wenig investiert. Wir schaffen ja im Moment Schulden in der Wirklichkeit: Züge kommen zu spät, Gesundheitsämter arbeiten noch mit Faxgeräten, und Sie werden auch Kinder kennen, die sich in den Turnhallen ekeln, auf die Toiletten zu gehen. Auf der kommunalen Ebene gibt es einen Investitionsrückstand von 149 Milliarden Euro bei Schulen, Bädern, Brücken. Zugleich sind die Zinsen dramatisch gesunken, das eröffnet Spielräume.

Das Geld, das er durch Wachstum und niedrige Zinsen gewinnt, hat der Staat in den letzten Jahren aber nicht investiert, sondern konsumiert. Was, wenn es mit einer gelockerten Schuldenbremse genauso läuft?

Deshalb wollen wir die Schuldenbremse durch eine Investitionsregel ergänzen. Nur der Aufbau von neuem volkswirtschaftlichem Vermögen soll darüber finanziert werden. Das kann auch Renovierungen einschließen, zum Beispiel von Schulgebäuden, genauso Glasfaserausbau, neue Verkehrssysteme, eine Neugestaltung des öffentlichen Raums. Jetzt haben wir eine günstige Möglichkeit. Das ist nicht unbedingt dauerhaft so, aber für die nächsten zehn Jahre können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die öffentliche Hand sehr günstig Kredite aufnehmen kann.

Es gibt erste Spekulationen gegen die Bundesanleihe, die Kreditzinsen für den Bund wachsen. Die Inflation steigt. Woher wollen Sie wissen, dass dieser Anstieg vorübergehend ist?

Weil wir gerade ein Übergangsphänomen erleben: Die Leute konnten wegen Corona nichts ausgeben, deshalb haben sie viel Geld zurückgelegt. Wenn sie wieder ins Restaurant gehen und shoppen können, erhöht das erstmal die Inflation, aber nur vorübergehend. Volkswirtschaftlich sind wir voll im Rahmen - aktuell liegen wir in der Eurozone unter dem EZB-Ziel von zwei Prozent.

Für das zweite Halbjahr rechnet die EZB in Deutschland mit drei Prozent Inflation.

Aber nicht für die nächsten zehn Jahre. Ökonomen rechnen damit, dass die Inflationsrate nach einem temporären Anstieg für einige Monate wieder sinkt. Wir werden älter, die Sparquote steigt, die Menschen legen mehr Geld zurück.

Von 2025 an kommen wir aber in eine neue Phase des demografischen Wandels: Dann gehen die Babyboomer in Rente und beziehen keine Arbeitseinkommen mehr. Vermutlich lösen sie ihre Ersparnisse auf und stecken das Geld in den Konsum.

Man muss natürlich darauf achten, und ich bin überzeugt, das wird die EZB auch. Ja, bei hoher Nachfrage und hohem Wachstum könnten auch die Zinsen wieder steigen, aber das verschlechtert unsere Finanzsituation nicht, denn dann sprudeln die Steuereinnahmen.

Scheitern öffentliche Investitionen wirklich am Geld? Im Finanzministerium liegt noch ein zweistelliger Milliardenbetrag für Investitionen bereit, der nicht abgerufen wird. Im Land Berlin zum Beispiel wird nur die Hälfte des Geldes aus dem Digitalpakt Schule genutzt.

Wenn Berlin bei der Hälfte ist, dann sind sie ja schon gut. Die Gelder fließen wirklich erbärmlich langsam ab. Wir müssen beides tun: Geld bereitstellen und den Abruf vereinfachen. Zum Teil fehlt es an Planbarkeit und in Behörden einfach an Stellen, die Geld verarbeiten. Vor allem in den Kommunen sind die Planungsämter oft unterbesetzt. Aber auch die Bauwirtschaft braucht das Signal der Politik, dass Investitionen dauerhaft erhöht werden und nicht nach Kassenlage.

Im öffentlichen Dienst wächst die Zahl der Stellen. Seit 2010 sind 300 000 Beschäftigte dazugekommen.

Als ich 2012 Minister wurde, hatten wir nach Jahren des harten Sparkurses Personalmangel an allen Ecken und Enden – bei Lebensmittelsicherheit, Tierschutz, Kontrollen von Biogasanlagen. Den Windkraftausbau konnten wir nur in Fahrt bringen, weil wir neue Planungsstellen geschaffen haben. Entscheidend war, dass dem ein politischer Wille voranging. Den brauchen wir jetzt insgesamt.

Dass in Deutschland der Bau einer neuen Bahnstrecke mindestens 30 Jahre dauert, liegt allerdings auch an Protesten von Anwohnern. Wollen Sie für die grüne Klimawende auch die Bürgerbeteiligung einschränken?

Stimmt, es gibt Bürgerbewegungen gegen alle Arten von Neubauprojekten – von Radwegen bis zu Schienentrassen. Aber wenn man Betroffene früh einbezieht, kann man schneller planen. In meiner Ministerzeit haben wir beim Stromnetz-Ausbau an der Westküste die Zeiten nahezu halbiert. Wir haben Planungsverfahren gebündelt. Wir haben eine Realisierungsvereinbarung geschlossen, die alle Beteiligten zu einem ehrgeizigen Zeitplan verpflichtet hat. Einmal im Quartal wurde sie auf Chefebene durchgesprochen. Früh im Prozess gab es ein klares Zeitfenster für Bürgerbeteiligung, informelle Bürgerdialoge, auch mit mir als Minister. Das war nicht immer nur Spaß, aber so konnten Menschen ihre Einwände früh einbringen, das wurde gleich in die Planung eingearbeitet. Bis zu meinem Ausscheiden aus dem Amt gab es beispielsweise gegen die Westküstenleitung keine Klagen von Naturschutzverbänden.

Die Grünen planen aber nicht nur Investitionen, auch für anderes wollen Sie mehr Geld ausgeben: Es soll einen höheren Staatszuschuss zur Rente geben, eine Kindergrundsicherung, keine Sanktionen mehr bei Hartz IV. Wie wollen Sie das finanzieren, wenn nicht über Schulden?

Das muss aus den laufenden Steuereinnahmen bezahlt werden. Dazu wollen wir vor allem gegen Steuertricks vorgehen und dabei eine gewisse Gnadenlosigkeit an den Tag legen. Schätzungen zufolge entgehen dem Staat bisher zweistellige Milliardenbeträge. Selbst wenn der nur einen Teil davon erhält, können wir damit viele Ausgaben finanzieren.

Soll heißen: Die Besteuerung der Digitalkonzerne soll’s richten?

Wir brauchen eine Steuer für Digitalkonzerne – und eine Finanztransaktionssteuer. Die Aufgabe aber ist größer. Die internationale Unternehmensbesteuerung braucht insgesamt eine Reform. Dazu gehören der diskutierte Mindeststeuersatz und die in Europa ins Stocken geratene gemeinsame Bemessungsgrundlage. Und auch kleinere Vorhaben sind wichtig: Wir brauchen eine Anzeigepflicht für Steuersparmodelle, die gibt es in Deutschland immer noch nicht.

Wurde das nicht zum Jahresbeginn 2020 beschlossen?

Aber bislang leider nur für die internationalen Gestaltungen. Wir brauchen es auch für die rein nationalen Modelle.

Bei der Einkommensteuer wollen Sie kleine und mittlere Einkommen entlasten, der Spitzensteuersatz soll steigen. Union und FDP lehnen höhere Steuern aber ab. Können Sie das in einer Koalition durchsetzen?

Das wollen wir. Ich weiß nicht, wie man ernsthaft dagegen argumentieren kann. Wir reden hier über wirkliche Spitzenverdiener. Selbst in der oberen Mittelschicht ist die Gesamtbelastung aus Steuern und Sozialabgaben heute höher als bei den Spitzeneinkommen. Deshalb wollen wir in der Einkommensteuer bei Alleinstehenden für alles, was über 100 000 Euro im Jahr hinausgeht, drei Prozentpunkte drauflegen. Für eine Person, die 150 000 Euro verdient, sind das 1500 Euro im Jahr. Das macht sie nicht arm. Im Übrigen fließt das Geld ja nicht in den Bundeshaushalt, sondern wir entlasten damit die unteren Einkommen.

Mit den wenigen Spitzenverdienern schaffen Sie keine spürbare Entlastung für die große Masse der Steuerzahler.

Aber für jemanden, der jeden Cent umdrehen muss, können schon ein paar Euro mehr im Monat eine echte Hilfe sein. Um Aufgaben im Bildungsbereich zu finanzieren wollen wir die Vermögensteuer wieder einführen. Von der hat der Bund aber nichts.

Selbst der grüne Ministerpräsident in Baden-Württemberg ist dagegen, weil Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis stehen.

Wie gesagt, die Vermögensteuer geht zu 100 Prozent an die Länder. Am Ende werden sie entscheiden müssen, ob sie zusätzliche Bildungsausgaben finanzieren können oder wollen. Es muss sich also unter den Ländern eine Mehrheit dafür finden.

Wenn es hart auf hart kommt, ist Ihnen in Koalitionsverhandlungen der Klimaschutz sowieso wichtiger als alle Finanzfragen?

Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Klimaschutzinvestitionen müssen finanziert werden. Sonst bleiben nur die Steuer- und die Ordnungspolitik, und das wäre wirklich eine hohe Belastung für die Wirtschaft wie für die Konsumenten. Nur, wenn wir Klimaschutz sozial gestalten, wird der gesellschaftliche Konsens für den Klimaschutz 25 Jahre lang halten.

Wie legen Sie selbst Ihre Ersparnisse heute an?

Im Wesentlichen tilge ich den Kredit für unser Haus.

Haben Sie angesichts der niedrigen Zinsen schon über eine Umschuldung nachgedacht?

Geprüft, aber nicht lohnend.

Was bedeutet Ihnen persönlich überhaupt Geld?

Geld ist ein Mittel zum Zweck. Es geht darum, ein Leben einigermaßen nach den eigenen Vorstellungen zu führen. Während meiner Studienzeit war Geld manchmal knapp, aber da habe ich wenig gebraucht. Es gab eine Phase, in der Geldsorgen den Alltag meiner Familie dominierten: Als wir Kinder bekamen und als selbstständige Schriftsteller ein schwankendes Einkommen hatten.

Haben Sie aus dieser Zeit noch einen Spartipp?

Alles aufessen. Was gekocht wird, wird gegessen. Und wenn man satt ist, hebt man es sich für den nächsten Tag auf. Ich kriege richtig schlechte Laune, wenn ich sehe, dass jemand seinen Pizzarand nicht aufisst. Ich war immer der Mülleimer der Familie.

Herr Habeck, wie viel verdienen Sie eigentlich als Parteivorsitzender? Und braucht es Bonuszahlungen, damit Sie Wahlen gewinnen?

Der Parteitag hat 2004 festgelegt, dass Parteivorsitzende in Anlehnung an die Bundestagsdiäten bezahlt werden - faktisch liegt das Vorsitzendengehalt etwas darunter. Ich weiß, dass das ein sehr, sehr gutes Gehalt ist und ich zu den Spitzenverdienern gehöre.Zum zweiten Teil Ihrer Frage, ist es etwas anders: Wir zahlen regulär Weihnachtsgeld. Und alle bei der Partei Beschäftigten haben 2019 ein höheres Weihnachtsgeld als sonst bekommen, weil sich die erfolgreiche Europawahl positiv auf die finanzielle Situation der Partei ausgewirkt hat. Und um Wahlen zu gewinnen, braucht es vor allem Leidenschaft und klare Ideen - und ehrlich gesagt auch ne Portion Glück.


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