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Artikel

Pole schaffen die notwendige Spannung

Annalena Baerbock und Robert Habeck lehnen an eine grüne Wand.
Dominik Butzmann

Was ist die Rolle der Grünen? In einer Zeit, wo sich auch in freien Gesellschaften Unversöhnlichkeit und Unvereinbarkeit immer weiter ausbreiten, braucht es die Bereitschaft für eine neue Bündnispolitik, die scheinbar Gegensätzliches als produktive Spannungen begreift, sie annimmt als sich bedingende Pole, finden Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Pole schaffen die notwendige Spannung. Das ist zwar anstrengend, aber notwendig. Ein paar Antworten auf die Debatten der letzten Tage.

Ein Gespenst ist mal wieder aus der Gruft gekrochen. Die Grünen seien zerrissen zwischen Pragmatismus und Protest, zwischen Regierung und Opposition. Gerade wird dieser Spuk am Verhältnis zum Autobahnneubau und dem Dannenröder Wald in Nordhessen festgemacht. Allerdings verkennt die Debatte Grundlegendes: die Aufgabe der Grünen als Bündnispartei in einer realen Welt.

Die Debatte hat ihre Wurzel in der Gründung der Grünen, als Ökobauern, Friedensbewegte, Feministinnen und Atomkraftgegner aus unterschiedlichen Ideen heraus eine Partei schufen, wissend, dass das Gemeinsame größer war als das Trennende. Dennoch rangen Fundamentaloppositionelle und Regierungspragmatiker die 80er Jahre über miteinander. 1993 kam es zur Fusion der westdeutschen Grünen mit den ostdeutschen Bürgerrechtler*innen des Bündnis 90. Und wieder hieß es, das seien ja eigentlich zwei Parteien. Und ja, die Fusion war eine anstrengende Annäherung, kein Anschluss. Ein paar Jahre später folgten die rot-grünen Regierungsjahre, und damit gingen Proteste gegen die Entscheidungen der Regierung einher, vom Atomausstieg (den einige als zu langsam kritisierten) bis zu den Auslandseinsätzen (wegen derer ein Teil die Partei verließ). In den vergangenen zehn Jahren kamen mit gewachsener Regierungsverantwortung in den Ländern und Kommunen bei gleichzeitiger Oppositionsrolle im Bund weitere Spannungsfelder dazu: zwischen den Zielen der Partei und der Umsetzung in Regierungshandeln, wie auch zwischen Bundes- und Landesinteressen. Mit jeder neuen Phase wuchsen wir weiter zusammen, stellten sich mit gewachsener Verantwortung aber auch neue Herausforderungen.

Unsere Partei ist anders und hat immer anders funktioniert als die anderen. Parteivorsitzende haben kein Regierungsamt, es ist ihnen deshalb qua Satzung nicht möglich, die Partei als Kanzler*innenwahlverein zu führen. Wir machen Politik schon immer im offenen Dialog zwischen Unten und Oben genauso wie zwischen verschiedenen Milieus. Was bei Gründung eben Ökobauern, Friedensbewegte und Feministinnen waren, das sind heute etwa Fridays for Future und Unternehmer*innen. Richtig ist, dass das die Partei immer wieder unter Spannung setzt und dass es mitunter anstrengend ist, aus solch unterschiedlichen Perspektiven heraus gemeinsame Positionen zu erringen und Debatten auszuhalten. Ja, Verantwortung und Vielfalt sind eine Zumutung, das gilt für die heutige Gesellschaft wie für uns als Partei. Aber wenn wir unsere Aufgabe gut machen, gewinnen wir aus Spannung Stärke.

Es nicht jedem Recht machen zu können, ist erst der Beginn von Politik

Die Realität ist voller Widersprüche. Nur ein geschlossenes Weltbild kennt keine Widersprüche. Was aus Sicht der Wissenschaft nötig ist, um die Klimaerhitzung zu stoppen, und was gesellschaftlich, lässt sich nicht einfach zusammenbringen. Politik muss die Differenzen offen benennen und immer wieder neu versuchen, Lösungen zu finden, sich zu erklären und Mehrheiten zu gewinnen. Weder der Konflikt über die Atomkraft noch über die internationale Verantwortung Deutschlands wären lösbar gewesen, wenn die Grünen nicht die Kraft gefunden hätten, unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen zu integrieren. Wenn es nicht den Willen gegeben hätte, sich gegeneinanderstehenden Positionen zu stellen, dann zu entscheiden und Kritik auszuhalten, sich ihr zu stellen. Es nicht jedem Recht machen zu können, ist erst der Beginn von Politik. Auch in der Opposition, wenn man sie ernst nimmt.

Wir haben das in den letzten Jahren auf den Begriff „Bündnispartei“ gebracht. Wenn man aber in einer Demokratie etwas verändern will, braucht es logischerweise Mehrheiten. Und der Begriff Bündnis bedeutet nun mal, mit Menschen eine Allianz einzugehen, die nicht alle exakt die gleichen Vorstellungen und Ziele haben wie man selbst.

Im Dannenröder Wald

Die Frage ist nun, ob man im Dannenröder Wald gegen den Autobahnausbau demonstrieren und gleichzeitig als Land in Regierungsverantwortung den vom Bundesgesetzgeber beschlossenen Ausbau der A49 umsetzen kann. Vorwegzuschicken ist, dass der Weiterbau der A49 über Jahrzehnte von Union und SPD vorangetrieben wurde, es also eine Autobahn der Großen Koalition ist, ein mittlerweile durch alle Instanzen durchgeklagtes und rechtskräftiges Bundesprojekt, das das Land Hessen umsetzen muss. Wenn überhaupt, kann noch die Bundesebene etwas tun. Das Fingerzeigen auf die Grünen verkennt also die realen Verhältnisse, die darin bestehen, dass Grüne seit 15 Jahren im Bund nicht regieren.

Aber das sei kurz beiseitegelegt und dafür das hinter den Vorwürfen liegende Politikverständnis beleuchtet, das besagt, entweder man vertritt die reine Lehre oder man wird unglaubwürdig. Erstens ist es aus unserer Sicht schlichtweg Ehrlichkeit, die Umsetzung eines Autobahnprojekts aus dem letzten Jahrhundert zu kritisieren und zugleich anzuerkennen, dass eine Landesregierung Bundesgesetze nicht nach eigenem Gutdünken ignorieren kann. Kein Anliegen steht außer oder gar über der Demokratie und dem Rechtsstaat. Zweitens – mal andersrum gedacht: Wir waren seit Gründung der Partei immer gegen Atomkraft und haben vor radioaktivem Müll gewarnt. Nach einem Politikverständnis von Entweder-oder müssten wir uns jetzt jeder Verantwortung für ein Endlager verweigern. Aber nein, wir übernehmen Verantwortung für die zukünftige Endlagerung des Atommülls und für einen Suchprozess nach wissenschaftlichen Kriterien. Das unterscheidet uns von so manchem Atomfreund von gestern, der heute lautstark fordert, dass das Endlager in keinem Fall in seinem Bundesland liegen darf, egal wie die wissenschaftliche Suche weitergeht. Ja, Glaubwürdigkeit und Verantwortung in der Politik sind manchmal kompliziert.

Politische Antworten auf politische Fragen

Das stärkste Argument von Fridays for Future war für uns immer, dass sie nur das einzuhalten fordern, was politisch beschlossen wurde und vertraglich gilt – das Pariser Klimaabkommen. Sie bezogen sich positiv auf den Staat, vertrauten darauf, dass er seine grundlegenden Zusagen einhält und forderten deshalb, dass er Regeln ändert, um auf den Weg dahin zu kommen. Wenn die Jugend dieses Vertrauen verlieren würde, würde sie den Glauben daran verlieren, dass Engagement Veränderungen im Rahmen des Rechtsstaats bringen kann. Umgekehrt gilt aber auch, dass rechtsstaatlich gefasste Beschlüsse gelten. Man sollte akzeptieren, dass man sich nicht einfach darüber hinwegsetzen kann, sondern sie erst ändern muss.

Entscheidend ist jetzt, was für Lehren wir als Politik aus der für viele enttäuschenden Situation an der A49 ziehen. Planungs-Dinosaurier aus dem letzten Jahrhundert sind im aktuellen Bundesverkehrswegeplan ja leider kein Einzelfall.

Der Bundesverkehrswegeplan ist 2016 letztmalig beschlossen worden. Er muss alle fünf Jahre überprüft werden, ob seine Annahmen noch stimmen, so will es das Fernstraßenausbaugesetz. Diese Überprüfung wäre also im nächsten Jahr. In der Zwischenzeit ist mindestens eine Vorgabe von Seiten der Bundesregierung neu hinzugekommen: dass Deutschland 2050 klimaneutral sein soll – auch im Verkehrsbereich. Und das ändert die Vorzeichen der Planung deutlich. Ebenso wie die Digitalisierung und Elektrifizierung. Es ist ein Gebot der Vernunft, diesmal grundsätzlich zu überprüfen, ob die Szenarien der letzten 30 Jahre auch für die kommenden 30 Jahre handlungsleitend sein können. Das sind wir insbesondere der jungen Generation schuldig.

Ist das „Ideologie“, wie CDU und SPD jetzt behaupten? Im Gegenteil: Wir müssen schneller planen und zügiger bauen – aber nicht alles, was in der Vergangenheit für richtig befunden wurde, kann auch für die Zukunft gelten. Routinierte Abwehrmechanismen gelten nicht mehr, wir müssen uns alle mehr anstrengen. Es geht darum, den Status quo der Verkehrspolitik nicht als bürokratischen Automatismus auf Ewigkeit fortzuschreiben, sondern Infrastrukturplanung im Ganzen neu zu denken. Es muss Raum für anderes geben, im Wesentlichen schnellere Zugverbindungen in Deutschland und Europa, wenn man Kurzstreckenflüge überflüssig machen will, für neue Mobilitätsformen, die auch die Planungen von Autobahnen verändern können.

Auch für diese Projekte werden möglicherweise Bäume gefällt werden – neue ICE-Trassen können durch Waldstücke verlaufen; Stromtrassen, um Strom aus Erneuerbaren Energien durch die Republik zu schicken, sind Eingriffe in die Natur und Bäume werden für sie gefällt – nicht eben mal so, sondern nach gründlicher Abwägung und Prüfung von Alternativen. Das Argument „kein Baum darf fallen“ ist aber ein Killer-Argument für jede Veränderung.

Gegensätzliches als produktive Spannungen begreifen

Was also ist die Rolle der Grünen? Man stelle sich vor, es gäbe keine Partei, die gesellschaftliche Dynamiken, den Protest für Klimaschutz etwa, mit der parlamentarischen Arbeit und der Verantwortung in Regierung verbindet. Man stelle sich vor, das, was jetzt einige von uns fordern, wäre Wirklichkeit: Die Grünen würden sich entscheiden für eine Seite – wir hätten entweder mehr Populismus in Deutschland und weniger Vertrauen in die Möglichkeit, dass Engagement sich lohnt, oder eine ermüdete Republik, deren Menschen ihre Leidenschaft eben nicht auf die Straße bringen, in der sich nichts bewegt. Nein, das wäre vielleicht einfacher, aber nicht besser. In einer Zeit, wo sich auch in freien Gesellschaften Unversöhnlichkeit und Unvereinbarkeit immer weiter ausbreiten, braucht es die Bereitschaft für eine neue Bündnispolitik, die scheinbar Gegensätzliches als produktive Spannungen begreift, sie annimmt als sich bedingende Pole. Diese Quelle für Kraft und Fortschritt nutzen wir, für Verantwortung und Veränderung.

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