Koalitionsvertrag: Mehr Fortschritt wagen

Nach rund einmonatigen Verhandlungen haben sich die Verhandler*innen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit SPD und der FDP auf einen Koalitionsvertrag verständigt, der die Grundlage für eine gemeinsame Regierung bilden wird. Dieser Koalitionsvertrag wurde heute öffentlich vorgestellt.
„Das Land steht vor großen Herausforderungen. Es gilt die Pandemie zu bewältigen, die Klimakrise einzudämmen, nachhaltigen Wohlstand neu zu begründen und im gesellschaftlichen Wandel Zusammenhalt neu zu bestimmen. All das verlangt Veränderungen. Mit diesem Koalitionsvertrag ist es uns nach intensiven Verhandlungen gelungen, dafür die Weichen zu stellen“, sagten die Vorsitzenden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Annalena Baerbock und Robert Habeck heute in Berlin.
„Als großes Industrieland können wir auf dieser Grundlage die Umstellung des Energiesystems auf Erneuerbare Energie forcieren, die Industrie umbauen und uns damit endlich auf den 1,5-Grad-Pfad begeben. Wir tun dies in einem Staat, der investiert und handlungsfähig ist, der das Leben der Menschen erleichtert und Freiraum für Innovationen schafft“, betonten Baerbock und Habeck. Sie erklärten weiter: „Wir gießen damit ein solides Fundament für vier Jahre Regierungsarbeit. Wenn wir das, was vereinbart ist, in dieser Legislaturperiode aufs Gleis setzen, wird sich in diesem Land wirklich etwas bewegen – vom Klimaschutz über einen modernen Staat bis hin zu mehr Gerechtigkeit, einer Gesellschaftspolitik, die der vielfältigen Wirklichkeit Rechnung trägt und einer aktiven, wertebasierten Außenpolitik.“
Urabstimmung zum Koalitionsvertrag
Die Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden nach dem Ende der Verhandlungen über den Koalitionsvertrag einer Bundesregierung und das grüne Personaltableau in einer Urabstimmung entscheiden. Dazu sagte Michael Kellner, Politischer Bundesgeschäftsführer: „Alle 125.000 Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden nach dem Ende der Verhandlungen über den Koalitionsvertrag und das grüne Personaltableau einer Bundesregierung abstimmen - zum ersten Mal in unserer Parteigeschichte. Jedes Mitglied kann mitbestimmen, ob BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als Teil der ersten Ampel-Regierung im Bund erstmals seit 2005 wieder in eine Bundesregierung eintritt und ob es mit dieser Regierung einen Aufbruch beim Klimaschutz und dem sozialen Zusammenhalt in diesem Land gibt.“ Die digitale Urabstimmung wird am 25. November starten und zehn Tage dauern. Für die Annahme des Koalitionsvertrags und die Zustimmung zum Personaltableau ist eine einfache Mehrheit notwendig. Ein Quorum gibt es nicht.
Kernpunkte des Koalitionsvertrages
Folgendes wollen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsam mit den Koalitionspartnern besonders vorantreiben:
Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft
Beim Klimaschutz wollen wir nach Jahren des Stillstands eine neue Dynamik in Gang bringen und so den 1,5-Grad-Pfad endlich einschlagen. Klimaschutz wird sich als Querschnittsthema durch alle Bereiche ziehen – von Verkehr über Industrie, Bauen und Wohnen hin zur Landwirtschaft und der Außenpolitik. Wir bringen ein Klimaschutz-Sofortprogramm auf den Weg, es wird einen Klimacheck für alle Gesetze geben. Wir wollen den Jahreswirtschaftsbericht erweitern und neben ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen des Wohlstands erfassen.
Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt
Es braucht Deutschland als starken Akteur in Europa und der Welt. Es ist Zeit die Stärken deutscher Außenpolitik wiederzubeleben. Unsere internationale Politik wird wertebasiert und europäisch eingebettet sein, in enger Abstimmung mit gleichgesinnten Partnern und mit einer klaren Haltung gegenüber internationalen Regelbrechern. Die Souveränität der EU soll erhöht, die strategische Solidarität mit demokratischen Partnern ausgebaut werden.
Menschenrechtspolitik, humanitäre Hilfe und zivile Krisenprävention stärken wir und etablieren wichtige Ansätze wie Klima-Außenpolitik und Klimagerechtigkeit. Mit einem Rüstungsexportkontrollgesetz wird die Rüstungsexportpolitik strenger. Exportgenehmigungen an die Kriegsallianz im Jemen wird es nicht mehr geben. Der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle geben wir neue Impulse. Als Beobachter bei der Vertragsstaatenkonferenz des UN-Atomwaffenverbotsvertrags wird Deutschland die nuklearen Abrüstungsbemühungen konstruktiv begleiten. Demokratiebewegungen werden wir ein verlässlicher Partner sein und den zivilgesellschaftlichen Dialog durch Visaerleichterungen fördern.
Den Auftrag und das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr richten wir an den strategischen Herausforderungen aus. Das Beschaffungswesen modernisieren wir und gestalten es effizienter. Ersatzbeschaffungen und marktverfügbare Systeme haben dabei Vorrang. Die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes soll in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden. Für den Schutz und die Aufnahme von Ortskräften werden wir uns einsetzen.
Deutschland wird seine Verpflichtung einhalten, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. 0,2 Prozent des BNE sollen den ärmsten Ländern des Globalen Südens (LDCs) zu Gute kommen. Zusätzlich werden wir die Mittel für die internationale Klimafinanzierung erhöhen. Mit Klima- und Entwicklungspartnerschaften wollen wir zu mehr Klimagerechtigkeit beitragen, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Klimaanpassungsmaßnahmen fördern.
Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen
Wir modernisieren und digitalisieren die Verwaltung, um das Leben der Bürger*innen einfacher zu machen. Bürger*innen binden wir stärker als bisher in die politische Entscheidungsfindung ein, unter anderem indem wir Bürger*innenräte zu konkreten Themen einsetzen. Innerhalb des ersten Jahres gehen wir die Reform des Wahlrechts an, mit dem Ziel, den Bundestag wieder deutlich zu verkleinern. Zudem wollen wir das Wahlalter für Europa- und Bundestagswahlen auf 16 Jahre senken.
Wir starten die überfällige Digitalisierungsoffensive. Wir treiben die flächendeckende Versorgung mit Glasfaser und dem neuesten Mobilfunkstandard voran – insbesondere da, wo der Nachholbedarf am größten ist. Wir räumen der Wissenschaft einen hohen Stellenwert ein und sorgen für Finanzierungsicherheit. Wir definieren Forschungsmissionen, um auf zentralen Zukunftsfeldern wie Klimafolgen, sauberer Energiegewinnung, einem vorsorgenden Gesundheitssystem oder Künstlicher Intelligenz Pionierleistungen zu ermöglichen.
Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt
Arbeit verdient Respekt und Anerkennung. Wir erhöhen den Mindestlohn auf 12 Euro die Stunde. Wir stärken das Tarifsystem und sorgen dafür, dass Bundesaufträge nur an Unternehmen gehen, die mindestens in Tarifhöhe bezahlen. Wir fördern die Weiterbildung durch ein Weiterbildungsgeld, schaffen ein Qualifizierungsgeld analog zum Kurzarbeitergeld, um im Strukturwandel Fachkräfte zu sichern und ermöglichen ein Lebenschancen-BAföG, so dass man auch mitten im Leben noch einmal etwas Neues beginnen kann.
Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie
Die Gleichstellung von Männern und Frauen bringen wir voran, indem wir das Entgelttransparenzgesetz verbessern und die Durchsetzung individueller Rechte stärken. Wir machen Frauen den Weg aus der Teilzeit leichter, in dem wir die Brückenteilzeit verändern. Die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen werden wir vorbehaltlos umsetzen. Damit Informationen über Schwangerschaftsabbrüche selbstbestimmt zugänglich werden, werden wir den §219a aus dem Strafgesetzbuch streichen.
Friedliches Zusammenleben und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft erfordern, Unterschiede zu achten und auseinandergehende Interessen konstruktiv auszuhandeln. Um Repräsentanz und Teilhabe zu verbessern, werden wir ein Bundespartizipationsgesetz schaffen und einen Partizipationsrat einführen.
Wir bringen die Rechtsnormen auf die Höhe der gesellschaftlichen Wirklichkeit, indem wir das Familienrecht modernisieren, das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen.
Zukunftsinvestitionen und Kampf gegen Steuerhinterziehung
Wir setzen auf solide Finanzpolitik, die Deutschlands Werte erhält, in die Zukunft investiert und so nachhaltiges Wachstum generiert und Wohlstand schafft. Es ist durch Umschichtungen und Neuaufstellungen im Haushalt gelungen, die nötigen Freiräume für die geplanten öffentlichen Investitionen vor allem in Klimaschutz zu schaffen. Dazu wandeln wir den Energie- und Klimafonds in einen Klima- und Transformationsfonds um. Außerdem werden wir die KfW nutzen, um private Klimaschutzausgaben finanziell zu fördern. Die Deutsche Bahn und andere Unternehmen und Gesellschaften im Besitz des Bundes werden ebenfalls ihre Investitionen deutlich erhöhen.
Wir werden klimaschädliche Subventionen reduzieren. In einem ersten Schritt werden wir die LKW Maut nach dem CO2-Ausstoß reformieren und auch den Güterverkehr schon ab 3,5 Tonnen in die Maut einbeziehen. Wir wollen die Förderung von PKW - auch von Dienstwagen - schrittweise so reformieren, dass sie nachweislich einen positiven Effekt für Klimaschutz hat. Außerdem werden künftig die Hersteller von Plastik eine Abgabe entrichten. Das verbessert die Anreize, verstärkt auf alternative Produkte umzustellen und entlastet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Wir werden eine internationale Vorreiterrolle im Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung einnehmen. Wir unterstützen die Einführung einer globalen Mindestbesteuerung. Außerdem werden wir in Deutschland eine Anzeigepflicht für Steuergestaltungsmodelle einführen und dafür sorgen, dass große Immobilienkonzerne künftig Grunderwerbsteuer zahlen und so share deals beenden.
Den Kampf gegen Geldwäsche werden wir deutlich intensivieren. Wir wollen unter anderem, dass gewerbliche und private Immobilienkäufer aus dem Ausland nachweisen, dass sie die Gelder versteuert haben. Generell werden wir den Immobilienkauf mit Bargeld verbieten.
Zur Verteilung der Ressorts
In Zeiten von Klimakrise, Globalisierung, Digitalisierung, neuen Sicherheitsrisiken und internationalem Wettbewerbsdruck, geht es darum die ökonomische Stärke Deutschlands neu zu begründen, die Klimaziele zu erreichen und Deutschlands Rolle in der Welt zu stärken.
Wir haben die Chance, unser Industrieland in ein neues Zeitalter zu führen und unseren Wohlstand, Millionen gute Arbeitsplätze zu sichern und auf nachhaltige Grundlagen zu stellen. Diese Aufgabe erfordert ein hohes Maß an Gestaltung. Die Grünen werden deshalb die Schlüsselministerien der Transformation führen, um in ökologischer und ökonomischer Verantwortung diese Aufgabe zu gestalten.
Allem voran mit einem Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, das auch die Schlagkraft des europäischen Binnenmarktes und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit erhöht.
Dies geht Hand in Hand mit den beiden Kernministerien , den Ministerien für Umwelt und Landwirtschaft, die es braucht, um die zweite große ökologische Krise, die des Artensterbens, zu bewältigen und gleichzeitig der Landwirtschaft, die uns ernährt und unsere Kulturlandschaft prägt, eine gute Zukunft zu geben. Zudem wird der Verbraucherschutz als zusätzliches Politikfeld mit hoher Alltagsrelevanz künftig von den Grünen verantwortet.
Es braucht Deutschland als starken Player in Europa und der Welt. Es ist Zeit, die Stärken deutscher Außenpolitik wiederzubeleben; das wollen wir über das Auswärtige Amt tun. Es gilt, den Krisen dieser Welt – etwa die Lage an den EU-Außengrenzen, die Situation in Belarus - aktiv zu begegnen und für die europäischen Werte entschieden einzustehen. Zugleich muss eine Klimaaußenpolitik begründet werden, die den neuen Sicherheitsrisiken auf dieser Welt etwas entgegensetzt. Auch die ökologischen Krisen machen nicht an den Außengrenzen halt.
Es ist gut, dass die Grünen das Vorschlagsrecht für den oder die EU-Kommissar*in haben. Die großen Herausforderungen der Welt werden sich nur Frage nur in einer starken EU lösen lassen.
Zudem übernehmen die Grünen in Zukunft auch Verantwortung für generationenübergreifenden Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft. Dazu gehört auch der Kampf gegen Rechtsextremismus und für unsere Demokratie. Wir haben uns für das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend entschieden, weil gerade die Pandemie gezeigt hat, dass Familien und Kinder in den Mittelpunkt der Politik gehören.
Unsere Gesellschaft braucht eine lebendige, freie, starke Kultur. Wie sehr sie fehlt, wenn sie verstummt, hat die Pandemie gezeigt. Es ist jetzt in dieser noch immer andauernden Krise entscheidend, den Künstlerinnen und Künstlern eine starke politische Stimme zu geben und sich um eine bessere Absicherung zu kümmern. Deshalb stellen die Grünen zukünftig die/den Staatsminister*in für Kultur und Medien.