Bildungsoffensive

Kinder sind nur so stark wie ihre Chancen

Kinder verdienen die beste Bildung, gerechte Chancen und vielfältige Teilhabe – und zwar jedes Kind. Dass Chancengleichheit in Deutschland jedoch noch lange nicht Realität ist, hat die Pandemie gezeigt. Wir wollen die Zäsur nutzen, um es besser zu machen. Dafür hat Annalena Baerbock heute eine nationale Bildungsoffensive vorgeschlagen, die Schulen zu den schönsten, fairsten und modernsten Orten des Landes machen soll.

Für die Schüler*innen ist und war die Zeit während der Pandemie ein ziemlicher Zick-Zack-Kurs. Kinder und Jugendliche haben zu viele Einschränkungen erfahren müssen und der Blick in den August und September, wenn es wieder losgehen soll, ist weiterhin unklar. Nachholangebote werden die großen Lücken und Rückschritte nicht allein lösen. Als politisch Verantwortliche haben wir die Pflicht, Kindern und Jugendlichen Bildung, gerechte Chancen und vielfältige Teilhabe zu ermöglichen. Und zwar allen. Für ihre individuelle Entfaltung wie auch für sie als Bürger*innen, Demokrat*innen, Arbeiternehmer*innen und Gesellschaft von morgen.

Schon vor der Corona-Pandemie hatte unser Bildungssystem ein Gerechtigkeitsproblem. Die letzte PISA-Studie, wie auch alle zuvor, hat gezeigt, wie stark schulische Leistungen mit der sozialen Herkunft zusammenhängen. In kaum einem anderen Land sind das Elternhaus und die Postleitzahl so entscheidend für den Bildungserfolg wie in Deutschland. Und nun sehen wir, wie die Corona-Pandemie diese Ungleichheit verschärft und manifestiert: benachteiligte Kinder wurden während der Schulschließungen nur teilweise oder gar nicht von Lernangeboten erreicht. Diese Kinder verpassen Schulstoff und verlernen Gelerntes. Sie fallen zurück, sie fallen durchs Raster.

Zwar können wir nicht alle Wunden und Spuren heilen, die die letzten anderthalb Jahre bei einigen Kindern und Jugendlichen hinterlassen haben. Aber wir sind es ihnen als Gesellschaft und erst recht als Politiker*innen schuldig, es von jetzt an wirklich besser zu machen.

Die Zäsur, die die Pandemie erzeugt hat, muss jetzt für eine Bildungsoffensive genutzt werden. Die Kommunen, die Länder und der Bund sollten ab jetzt gemeinsam dafür Verantwortung tragen, dass Schulen zu den schönsten und modernsten Orten unseres Landes werden. Kein Verstecken mehr hinter den anderen. Kein Gerangel mehr um Kompetenzen. Keine Geldtöpfe, bei denen die Millionen stecken bleiben, statt in der Schule anzukommen. Seit 2017 liegen Bundesgelder in Milliardenhöhe für den Schulbau und die Renovierung bereit. Arme Kommunen, die kaum noch Verwaltungskräfte haben, schaffen es bis heute nicht, die ihnen zustehenden Gelder zu nutzen. Um diese strukturelle Unwucht endlich zu beseitigen, müssen alle – Kommunen, Länder und Bund – an einen Tisch. Denn das Versprechen von Chancengerechtigkeit und Entfaltung der eigenen Möglichkeiten ist das Fundament für das Funktionieren unserer liberalen Gesellschaft.

Deshalb braucht es eine nationale Bildungsoffensive:

1. Jeder Weg beginnt mit einer Chance.

Chancengleichheit umsetzen und Aufstiegsversprechen einlösen.

Jedes Kind soll die Unterstützung bekommen, die es benötigt, um zu lernen und sich zu entfalten. Dafür müssen wir Ungleiches ungleich behandeln: Schüler*innen, die mehr Unterstützung brauchen, sollen auch mehr gefördert werden. Schulen in benachteiligten Gebieten brauchen dafür zusätzliche Ressourcen und Personal. Es geht um nicht weniger als darum, tolle Modellschulen zur Regel zu machen und alle Schulen zu Orten zu machen, die abbilden, was unsere Gesellschaft zu bieten hat. Um Kindern gleiche Chancen und Zukunftsperspektiven zu geben, braucht es von Bund, Ländern und Kommunen eine stärkere Bildungskooperation und neue Ideen der gemeinsamen Bildungsfinanzierung.

  • Neues Bildungs- und Teilhabegesetz: Wir wollen mit einem neuen Bildungs- und Teilhabegesetz einen wichtigen Schritt für mehr Chancengleichheit gehen. Schulen mit einem Anteil von mehr als 20 Prozent anspruchsberechtigter Kinder bekommen damit einen besonderen Förderauftrag vom Staat und erhalten dann künftig automatisch mehr Geld. Damit sollen sie zusätzliche Lernförderung und systematische Präventions- und Interventionsarbeit dauerhaft ausbauen und Schulbegleiter*innen, Sozialarbeiter*innen und andere pädagogische Fachkräfte einstellen. Das bestehende Bildungs- und Teilhabepaket ist völlig unzureichend für die Herstellung von Chancengleichheit. Damit erhielt zuletzt nur jedes zehnte anspruchsberechtigte Kind entsprechende Lernförderung. Wir wollen den Schulen mit dem Bildungs- und Teilhabegesetz dagegen einen echten Kümmer- und Sicherstellungsauftrag an die Hand geben. Das Bildungs- und Teilhabegesetz stellt sicher, dass jedes benachteiligte Kind Angebote zur Lernförderung, für Kultur, Sport und Spiel und eine notwendige digitale Grundausstattung erhält.
  • Gipfel zur Bildungskooperation: Gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode soll ein Bildungsgipfel mit Bund, Ländern und Kommunen einberufen werden, um eine gemeinsame Agenda (Ganztag, Digitalisierung, Schulgebäudesanierung, Förderung von Bildungsgerechtigkeit, Fachkräftesicherung, Schulsozialarbeit) zu verabreden, für die der Bund zusätzlich dauerhaft Mittel zur Verfügung stellt.
    - Zielgerichtete Finanzierung: Gerade auch um die Unterfinanzierung im Primarbereich anzugehen, müssen wir wegkommen von bloßer Anschubfinanzierung des Bundes hin zu einer verlässlichen Finanzierung um Bildungsgerechtigkeit sicherzustellen. Dies kann durch eine Reform des Königsteiner Schlüssels als Verteilmechanismus der Bildungsfinanzierung geschehen. Denn dieser setzt sich zu zwei Dritteln aus dem Steueraufkommen und zu einem Drittel aus der Bevölkerungszahl der Länder zusammen. Damit wird z.  B. bewirkt, dass bei gemeinsamer Finanzierung pro Kind in einem Bundesland wie Bremen viel weniger investiert wird als pro Kind in einem reichen Land wie Bayern. Wir wollen, dass Bundesgelder zukünftig bei denen ankommen, die es am meisten brauchen.

2. Lernen ist systemrelevant.

Bildung krisenfest machen.

Es darf kein weiteres Mal passieren, dass die Corona-Pandemie das Bildungssystem unvorbereitet trifft. Für das neue Schuljahr müssen jetzt überall die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Unterricht sicher möglich ist.

  • Schulen und Kitas jetzt so sicher wie möglich machen mit Lüftungskonzepten, Luftfiltern, Teststrategien, Masken und der Vermeidung großer Ansammlungen in geschlossenen Räumen. Das RKI empfiehlt für Schulen insbesondere Lollitests. Allen Schulen und Kitas muss ermöglicht werden, ihre Räume mit Luftfiltern oder mindestens CO₂-Ampeln auszustatten. Zudem soll mit Impfaufrufen und niedrigschwelligen Angeboten ein „Schutzkokon” gebildet werden, indem sich möglichst alle Erwachsenen, insbesondere jene im Umfeld von Kindern, impfen lassen.
  • Delta-Leitfaden für Schulen und Kitas: Dieser soll, basierend auf internationalen Studien, vom RKI entwickelt werden und den Verantwortlichen Empfehlungen an die Hand geben, wie Schulen und Kitas mit Blick auf die Delta-Variante möglichst sicher gehalten werden können. Das gleiche gilt gegebenenfalls für weitere Mutationen, die noch auftreten können.
  • Pakt für unsere Kinder und Jugendliche: Es braucht jetzt ein verbindliches Versprechen der politischen Spitzen, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen bei einer etwaigen vierten Wellen in den Mittelpunkt zu stellen und entsprechend Schul- und Kitaschließungen nur als letzte Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Kinder, die zuhause kein sicheres Lernumfeld haben, müssen bei etwaigen Schulschließungen die Möglichkeit haben, weiterhin betreut in der Schule lernen zu können. Das Recht auf Bildung muss für alle Kinder und Jugendliche gewährleistet werden.

3. Digitales Lernen: Ab sofort.

Bildung ermöglichen, die über die Klassenzimmer hinausgeht.

Die Corona-Pandemie hat das deutsche Schulsystem unvorbereitet zu einem Digitalisierungsschub gezwungen. Diesen Schub sollten wir nutzen, indem wir ihn entfalten: Wir müssen alle Schulen mit zeitgemäßer und datenschutzfreundlicher digitaler Ausstattung versorgen und Lehrkräfte fit machen in digitaler Bildung.

  • Bundeszentrale für digitale Bildung gründen: Die über 30.000 Schulen unseres Landes brauchen eine zentrale Anlaufstelle, welche die Rahmenbedingungen für die Beschaffung von digitalen Inhalten bundesweit klärt, Open-Source-Software fördert und als Anlauf- und Verbindungsstelle die Bildungsakteur*innen, angepasst an die Vorgaben der jeweiligen Bundesländer, unterstützt.
  • Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften: Wir brauchen gute und länderübergreifende vernetzte Strukturen der Fort- und Weiterbildung. Mit echten Anreizen, zeit- und ortsunabhängig und qualitativ hochwertig. Damit alle Lehrer*innen digitale Bildung nutzen und mit ihren Schüler*innen gemeinsam das Lernen weiterentwickeln können.
  • DigitalPakt leistungsfähiger machen: Durch beschleunigtes und für die Schulträger leistbares Abrufen der DigitalPakt-Gelder mit klaren Zielvorgaben.