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Artikel

Gesundheitsversorgung und Pflege

Ein Debattenbeitrag zum grünen Grundsatzprogramm der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit, Soziales und Gesundheit.

Präambel

Ziele gesundheitspolitischer Maßnahmen sind die Erhaltung von Gesundheit und im Erkrankungsfall die Sicherstellung einer flächendeckenden, wohnortnahen, allgemein zugänglichen Versorgung ohne Brüche zwischen den Sektoren ambulante, stationäre und rehabilitative Medizin. Dabei müssen die unterschiedlichen soziostrukturellen und demografischen Bedingungen berücksichtigt werden. So brauchen vor allem ältere Menschen ein an ihre Situation angepasstes Angebot – ebenso wie zum Beispiel Kinder und Jugendliche oder Menschen mit Migrationsgeschichte.

Prävention und Gesundheitsförderung

Prävention und Gesundheitsförderung sind politische Querschnittsaufgaben, die verstärkt in die Lebenswelten getragen und dort verankert werden müssen, in denen die Menschen wohnen, lernen und arbeiten. Prävention von Anfang an bedeutet eine qualitativ und quantitativ gute Hebammenbetreuung und Förderung gesunder Lebensweise in Kita und Schule. Sie bedeutet auch Schutz vor Umweltgiften und Lärm am Arbeitsplatz und beim Wohnen, sowie gesunde Aufenthaltsmöglichkeiten im Freien. Eine gesamtgesellschaftlich fundierte Präventionsstrategie erfordert gemeinsame, am Bedarf der Zielgruppen orientierte ressortübergreifende Vorgehensweisen auf allen Ebenen. Dies stärkt auch die gesundheitliche Chancengleichheit. Viele Erkrankungen sind in sozial benachteiligten Gruppen deutlich häufiger, Präventionsmaßnahmen müssen daher mehr als bisher in sozialen Risikogruppen ansetzen. Einzelaktivitäten, finanziert aus dem Sozialversicherungstopf, sind häufig wenig zielführend. Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) sollte gestärkt und besser ausgestattet werden, die kommunale Gesundheitsberichterstattung und die Forschung im Bereich Gesundheitsförderung sollten erweitert werden.

Koordinierte, sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung

Im deutschen Gesundheitswesen führen strukturelle Probleme zu Über-, Unter- und Fehlversorgung. Unkoordinierter Zugang zu den Versorgungsebenen, starre Trennung einzelner Sektoren, Vergütungssysteme, die Fehlanreize setzen und gewinnorientierte Handlungsmaximen sind die wesentlichen Ursachen.

Der Zugang zum deutschen Gesundheitswesen verläuft häufig sehr unstrukturiert. Viele Patient*Innen verlieren sich im Dickicht einer Vielzahl an Angeboten. Der Stellenwert der Koordination nimmt aufgrund der zunehmenden Komplexität von Erkrankungen und deren Behandlungsverläufen zu. Um eine gestufte, bedarfsgerechte Inanspruchnahme der verschiedenen Sektoren (Hausarztpraxis, Facharztpraxis, Psychotherapiepraxis, Krankenhaus) zu erreichen und Fehl- und Übertherapie zu vermeiden, ist ein qualifiziertes Primärarztsystem erforderlich. Gleichzeitig muss der Zugang zu komplexen ambulanten Leistungen im Krankenhaus ohne Zwischenüberweisungen durch Fachärzt*innen oder überflüssige stationäre Aufnahmen direkt über die Hausarztpraxis möglich werden. Wenn Psychotherapie erforderlich wird, sollte diese möglichst ambulant und ohne bürokratische Hürden durchgeführt werden können. Die Gesundheitsplanung soll alle Sektoren (ambulant und stationär) umfassen, die bestehenden Sektorengrenzen überwinden und auf die Bedürfnisse vor Ort ausgerichtet sein. Mittel- und langfristig streben wir an, die Gesundheits- und Pflegeleistungen regional und in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft zu planen.

Reform der Krankenhausfinanzierung

Erlösoptimierung im Krankenhausbereich, wie sie bisher betrieben wird, hat zu grotesken Fehlentwicklungen geführt. Arbeitsverdichtung, Personalmangel und Einschränkungen bei der Pflege sind schwerwiegende Nebenwirkungen.

In den Krankenhäusern erfolgt die Finanzierung der Investitionskosten durch die Länder, die Betriebskostenfinanzierung erfolgt durch das Vergütungssystem nach Fallpauschalen oder G-DRGs (Diagnosis Related Groups, DRGs). Bei den Entscheidungen über Behandlungen und die Dauer des Krankenhausaufenthaltes wird heute nicht mehr allein nach medizinischen Kriterien entschieden, sondern immer mehr danach, was sich gewinnbringend abrechnen lässt.

Angesichts politisch vorgegebener Budgetbegrenzungen bei den Leistungen und unzureichenden Investitionsfinanzierung durch die Länder ist der Druck in den Krankenhäusern groß, Personal einzusparen, Fallzahlen in gewinnbringenden Bereichen zu steigern und in defizitären Bereichen abzubauen. Das DRG-System sollte für eine wirtschaftlichere stationäre Versorgung sorgen, leider hat es häufig denjenigen Krankenhausträgern Gewinne ermöglicht, die schlechte Arbeitsbedingungen und erlösorientierte Versorgung für Patient*innen bieten. Die Notwendigkeit einer grundlegenden Vergütungsreform im Krankenhausbereich ist offensichtlich. Dabei sollten Einzelleistungsvergütungen vermieden werden und Kriterien für auskömmliche Budgets der Krankenhäuser entwickelt werden.

Sicherung einer menschenwürdigen Pflege - Selbstbestimmte, quartiersnahe Pflege

Die Sicherung einer menschenwürdigen Pflege ist ein zentrales gesellschaftliches Thema, das aufgrund des demografischen und sozialen Wandels weiter an Bedeutung gewinnen wird. Neben der Sicherung eines ausreichenden Angebotes an Fachkräften in der Pflege wird es insbesondere darum gehen, die Pflegeinfrastruktur so auszurichten, dass sie den Wünschen der Pflegebedürftigen entspricht und die Selbstbestimmung wahrt. Bereits heute stoßen Großeinrichtungen wegen der mit ihnen verbundenen Einschränkungen bei vielen Menschen auf Ablehnung, während Wohn- und Pflegeformen favorisiert werden, die auf Selbstbestimmung und Individualität setzen. Die UN-BRK hat hierzu auch klare Vorgaben gemacht. Der Großteil will bis ins hohe Alter und bei Pflege- und Unterstützungsbedarf selbstbestimmt wohnen oder in einer überschaubaren gemeinschaftlichen Wohn- und Pflegeform im vertrauten Wohnumfeld. Zudem müssen pflegende Angehörige umfassend entlastet werden. Eine umfassende und verlässliche Pflege im selbstbestimmten Wohnumfeld muss auch ohne die Pflegearbeit von Angehörigen sichergestellt werden. Statt eines weiteren Ausbaus an großen Heimeinrichtungen wollen wir Wohn- und Pflegeformen im Quartier flächendeckend ausbauen.

Die Entwicklung hin zu einem massiven Ausbau stationärer Einrichtungen würde sich gleichsam auf alle Generationen negativ auswirken. Denn die Infrastruktur an Pflegeeinrichtungen, die wir heute schaffen, wird auch noch die Angebotsformen derer prägen, die erst in einigen Jahrzehnten auf Pflege- und Unterstützung angewiesen sein werden. Vielerorts wird es dann an einem ausreichenden Angebot für ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Großeinrichtungen fehlen. Das Recht auf Selbstbestimmung über das Wohnen auch bei Pflege (UN-BRK Art.19) würde gleichsam unterlaufen. Dabei haben sich andere Länder um uns herum längst von der Einrichtungsform der stationären Großeinrichtung verabschiedet. Sie versuchen durch sozialpädagogische Maßnahmen und seniorengerechte Wohnungen, Pflegebedürftigkeit zu verhindern und setzen auf umfassende Pflege im Quartier. Um den Menschen zuverlässige Pflege- und Betreuungsangebote - möglichst in häuslicher Wohnumgebung - zu ermöglichen, müssen jetzt tragfähige Strukturen geschaffen werden. Die Gestaltung der Pflegeinfrastruktur den renditeorientierten Konzernen mit ihren Großheimimmobilien zu überlassen, ist der falsche Weg.

Inklusive Gesellschaft

Inklusion ist ein Menschenrecht und betrachtet die Unterschiedlichkeit der Menschen als Normalität. Eine inklusive Gesellschaft sieht alle Menschen, gleich welcher Fähigkeiten oder Bedarfe, welcher Herkunft, Weltanschauung oder sexueller Identität, als individuell, besonders und gleichberechtigt an. Die Sicherung der Selbstbestimmung und das Prinzip des Ausgleichs von Nachteilen müssen statt dem der Fürsorge im Vordergrund stehen.

Wir GRÜNEN werden uns daher mit Nachdruck dafür einsetzen, dass die Menschenrechte von Menschen mit Behinderung sichergestellt und die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention voll umgesetzt werden. Hierzu gehört auch, dass - außer in Gefährdungssituationen - kein Mensch gezwungen werden darf, in einer stationären Einrichtung leben zu müssen (Art.19 UN-BRK).

Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen ist eine Grundvoraussetzung der inklusiven Gesellschaft und ist dabei umfassend zu verstehen. Er bezieht sich auf alle baulichen Bereiche, auf die Kommunikation und auf die Mobilität. Es gilt sprachliche und kulturelle Zugangsbarrieren zu verhindern und abzubauen sowie die soziale Infrastruktur und die Daseinsvorsorge entsprechend auf die Bedarfe der Menschen mit Unterstützungsbedarf auszurichten. Auch Menschen mit einem sehr intensiven Unterstützungsbedarf muss durch eine entsprechende Gestaltung und Unterstützung in allen Lebensbereichen die Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht werden.

Bürgerversicherung

Das Gesundheitswesen muss solidarisch, gerecht und verlässlich finanziert sein. Doch heute finanzieren es vor allem Menschen mit mittlerem oder geringem Einkommen. Denn Gutverdienende, Beamtinnen und Beamte, viele Selbständige, die privat versichert sind, werden in die solidarische Finanzierung nicht einbezogen. Wir brauchen daher eine Bürgerversicherung, in der alle Einkommensarten berücksichtigt werden. Für die Umsetzung sind noch etliche Fragen ungeklärt: In welchen Bereichen sollen die Krankenkassen in einer Bürgerversicherung unterschiedliche Angebote machen können? Wie kann der Übergang in eine Bürgerversicherung aussehen? Wie vollzieht sich der Einstieg bei den Beamt*innen? Kliniken und manche Praxisgruppen subventionieren z. Z. ihren Betrieb durch Privateinnahmen. Was passiert, wenn die Privateinnahmen wegfallen? Eine neue Honorarordnung, in der die höheren Privatvergütungen eingepreist sind, wird erforderlich.

Digitale Anwendungen und Vernetzung im Bereich Gesundheitsversorgung und Pflege

Digitale Anwendungen existieren schon jetzt in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung und Pflege. Die Chancen liegen in der Weiterentwicklung der Geräte. Durch die Vernetzung gewinnt die IT-Sicherheit immer mehr an Bedeutung, da die Systeme nicht mehr nur lokal erreichbar sind, sondern durch das Internet weltweit.

Das größte Problem bei der Vernetzung ist die Datensicherheit. Elektronische Patientendaten sind ein hochsensibles Gut, das auf keinen Fall öffentlich werden sollte. Vernetzte IT-Systeme 100 % sicher zu gestalten, wird aufgrund der Erfahrungen aus anderen Ländern oder Arbeitsbereichen, nicht möglich sein. Insbesondere die elektronische Patientenakte (ePA) auf privaten Computern und Smartphones öffnet Tür und Tor für Datenmissbrauch. Es gehört daher auch zur Fürsorge, Patient*innen vor Überforderung durch Digitalisierung zu schützen. Die Aufgabe verantwortungsvoller Politik ist es, nicht nur verbal die Datensicherheit einzufordern, sondern auch kompetent überflüssige Datenspeicherung und -transfers zu unterbinden

Eingriff in das menschliche Genom durch neue Gentechnologien (CRISPR/CAS9)

Man kann dank der CRISPR/CAS-Technik in bislang nicht gekannter Präzision in das Genom eingreifen. Hinzukommt, dass dieses Verfahren effizient, kostengünstig und verhältnismäßig einfach zu handhaben ist. Bislang eher abstrakt diskutierte Anwendungsmöglichkeiten rücken nun in greifbare Nähe. Damit stellen sich bereits bekannte Fragen der ethischen Debatte über den Zugriff auf das menschliche Erbgut neu. Insbesondere Eingriffe in die menschliche Keimbahn und ihre Auswirkungen auf zukünftige Nachkommen sind stark umstritten. Der Hoffnung, mithilfe von Genveränderungen schwerwiegende Krankheiten zu lindern, zu heilen oder sogar zu verhindern, stehen nicht nur Sicherheitsrisiken gegenüber, sondern auch die Sorge vor der Ausweitung solcher Anwendungen auf Bereiche, die die Grenze zwischen Therapie, Prävention und Enhancement verschwimmen lassen.

Die Gefahr des Missbrauchs ist hoch. Eingriff in die Evolution und Dynamik sind beängstigend. Beim Eingriff ins Genom besteht immer das Risiko, dass nicht nur Heilung, sondern auch Behinderung entstehen kann. Letztendlich muss man entscheiden, was unterscheidet diese Methode von anderen Therapien?

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