Anschlag in Hanau

Aktionsplan gegen Rassismus

Annalena Baerbock, Ferda Ataman, Stephan Kramer und Robert Habeck laufen nebeneinander.
© Nils Brauer

Wir tragen gemeinsam Verantwortung, Rassismus und Rechtsextremismus den Nährboden zu entziehen. Der grüne Parteirat hat im März 2020 nach dem Anschlag in Hanau darüber mit der Journalistin Ferda Ataman und dem Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen Stephan Kramer diskutiert und einen Aktionsplan gegen Rassismus beschlossen.

Ein Jahr nach Hanau sitzen Schmerz, Trauer und Wut über den Tod der Menschen, die bei dem rassistischen Terroranschlag in Hanau erschossen wurden, immer noch tief. Unsere Gedanken sind bei den Opfern, den Menschen, die getötet wurden - es waren Hanauer und Hanauerinnen, Söhne und Töchter, Nichten und Cousins, Arbeitskollegen, Nachbarinnen und Freunde, Menschen, die mitten aus dem Leben und aus unserer Gesellschaft gerissen wurden. Wir denken genauso an ihre Angehörigen und ihre Freundinnen und Freunde.

Allen, die sich durch diese Tat unsicher fühlen und die Angst haben, da sie aufgrund ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Identität oder ihres Engagements zur Zielscheibe des rechtsextremen Hasses werden können, möchten wir versichern: Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass Konsequenzen daraus folgen. Die Angriffe und Bedrohungen zielen seit Jahren besonders auf Jüdinnen und Juden, auf Musliminnen und Muslime, auf emanzipierte Frauen, auf Menschen, die anders aussehen, glauben, lieben oder heißen, auf alle, die anders sind und leben, als Rechtsextreme sich Deutschland vorstellen. Hanau war ein Angriff auf Einige von uns. Und Hanau war ein Angriff, der uns alle angeht. Die Stärke einer Demokratie misst sich immer auch am Umgang mit Minderheiten. Wir tragen gemeinsam Verantwortung.

Das Ziel von Rechtsextremen ist, Menschen mit Migrationshintergrund einzuschüchtern und aus dem Alltag zu verdrängen. Unsere laute, vernehmbare Antwort darauf ist: Sie haben ein Recht auf einen sichtbaren Platz in diesem Land und wir werden alles dafür tun, damit sie ihn beanspruchen können. Sie sind Teil von uns. Die Selbstverständlichkeit jüdischen und muslimischen Lebens, von jedweder Vielfalt in der Gesellschaft und der bedingungslose Schutz vor Rassismus sind existenziell für unsere Demokratie.

Mehr denn je müssen wir sicherheitspolitische Maßnahmen jetzt danach ausrichten, rechtsextreme Gewalt zu stoppen und rechtsextreme Netzwerke auszuhebeln, damit die Sicherheit gewährleistet ist. Doch dabei können wir nicht stehen bleiben, sondern müssen an die Ursachen ran. Denn Rassismus beginnt nicht erst bei Gewalt und Terror. Er beginnt dort, wo Menschen aufgrund bestimmter Merkmale und Zuschreibungen zu “Fremden”, zu „Gästen“ und zu “Anderen” gemacht und ausgeschlossen werden. Und diese Art von Diskriminierungserfahrungen prägt immer noch die Lebensrealität vieler Menschen, die hier leben. Wir setzen uns daher in aller Entschlossenheit für vollumfängliche gesellschaftliche und politische Teilhabe ein. Wer für das friedliche Zusammenleben, für Demokratie und gleiche Würde und Freiheit der Menschen einsteht, muss sich nun klar bekennen: zu einem pluralen Deutschland als vielfältiges Einwanderungsland, in dem Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Wir bilden. Ein Wir gegen den Hass, ein Wir für die Demokratie.

Folgende konkrete Maßnahmen sind aus unserer Sicht notwendig, damit wir der Realität unserer vielfältigen Gesellschaft gerecht werden.

1. Für ein Land, in dem alle vor Rechtsextremismus sicher sind

Alle Menschen sollen sich in diesem Land sicher fühlen. Rechtsextreme und rassistische Straftaten wirksam zu bekämpfen, muss zur Priorität werden. Auch institutionellen Rassismus müssen wir dringend angehen, damit Behörden und staatliche Institutionen überall und für alle Menschen eine sicherere und vertrauensvollere Anlaufstelle darstellen. Deshalb fordern wir:

  • Schwerpunktstaatsanwaltschaften, die sich rechtsextremen Straftaten widmen und dafür mit ausreichend Personal ausgestattet sind, damit Verfahren beschleunigt und die Rechtsdurchsetzung gewährleistet werden.
  • Eine wirksame Verschärfung des Waffenrechts.
  • Eine neue Fehlerkultur in der Polizei und entschiedenes Vorgehen gegen rechte Strukturen in den Sicherheitsbehörden durch unabhängige Polizeibeauftragte, flächendeckende Schulungen, psychologische Beratung und die Einführung eines parlamentarischen Kontrollgremiums.
  • Einen umfassenden Whistleblower-Schutz, so dass insbesondere Angehörige der Sicherheitsbehörden Hinweise zu Verstößen gegen deutsches Recht und alle weiteren Sachverhalte von öffentlichem Interesse angstfrei melden können, ohne zwingend interne Meldewege zu gehen.
  • Eine „Task Force Rechtsextremismus“ als Anlaufstelle für Menschen, die von rechter Gewalt bedroht sind. Ein erster Schritt wäre die Einrichtung einer zentralen Hotline.
  • Rassistische Straftaten sollen umfassend statistisch erfasst und rassistische Motive in der strafrechtlichen Verfolgung stärker berücksichtigt werden. Antimuslimische Straftaten sollen analog zur Erfassung von antisemitisch motivierten Straftaten erfasst werden.
  • Einen Fonds für Opfer von rechter Gewalt.
  • Konsequente Erfassung und Verfolgung von Gewalt, Verschwörungstheorien und extrem rechter Hetze im Netz, durch die Einrichtung einer flächendeckenden virtuellen Polizeiwache, bei der man online Strafanzeigen gegen Hass im Netz stellen kann.

2. Rassismus und Diskriminierung stoppen

Rassismus beginnt nicht erst mit Terroranschlägen, sondern mit dem Ausschluss und der Abwertung von Menschen, die vermeintlich “anders” oder “fremd” sind. Wir sehen es als staatliche Aufgabe, Diskriminierung zu verhindern, und treten Rassismus auf allen Ebenen entschieden entgegen. Deshalb fordern wir:

  • Ein Demokratiefördergesetz als bundesgesetzliche Grundlage für eine solide Strukturförderung von politischer Bildung, von antirassistischen Initiativen und von Aussteigerberatung für Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker*innen sowie von Opferhilfe und -beratung. Die Förderung bewährter zivilgesellschaftlicher Träger, Projekte und Netzwerke durch den Bund muss finanziell ausgebaut und verstetigt werden.
  • Eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, damit weitere gemeinnützige Zwecke wie der Kampf gegen Rassismus, für Grund- und Menschenrechte und unsere Demokratie aufgenommen werden und auch das politische Engagement dafür gemeinnützig ist.
  • Eine*n Regierungsbeauftragte*n gegen Rassismus, denn um Rassismus gesamtgesellschaftlich effektiv zu bekämpfen, braucht es klare Verantwortlichkeiten auf Bundesebene.
  • Die zügige Nachbesetzung der Leitung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die seit Beginn der Legislaturperiode ohne reguläre Leitung ist.
  • Die Einrichtung eines wissenschaftlichen Instituts, um Demokratiefeindlichkeit, Rechtsextremismus und Radikalisierungsprozesse zu erforschen und eine wissenschaftliche Grundlage für Gegenmaßnahmen zu schaffen.
  • Unabhängige Beratungs- und Beschwerdestellen für Fälle von Diskriminierung an Schulen.
  • Die Förderung der Auseinandersetzung mit den universellen Lehren der Shoah in der Schulbildung, z.B. durch Gedenkstättenbesuche und empathische Biografiearbeit über NS-Opfer.
  • Die Stärkung antirassistischer Arbeit in Schulen, sowie die stärkere Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte im schulischen Kontext, die die betroffenen Gruppen berücksichtigt.
  • Eine Ausweitung des Diskriminierungsschutzes mittels einer Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
  • Eine breite Diskussion darüber, wie das Ziel einer vielfältigen Gesellschaft im Grundgesetz verankert werden kann. Den Begriff "Rasse" wollen wir aus dem Grundgesetz streichen und ersetzen sowie einen Gewährleistungsanspruch des Staates in Artikel 3 GG verankern, der den Staat dazu verpflichtet, aktiv für Antidiskriminierung einzutreten.

3. Vielfalt und Teilhabe fördern

Wir leben in einer vielfältigen Gesellschaft - an vielen Stellen, gerade dort wo wichtige Entscheidungen getroffen und unser gesellschaftliches Leben gestaltet werden, spiegelt sich das aber noch nicht wieder. Wir stehen für eine Politik, die der Realität eines modernen Einwanderungslands gerecht wird und diese aktiv gestaltet. Deshalb fordern wir:

  • Ein Partizipations- und Integrationsgesetz nach dem Vorbild von Baden-Württemberg, Berlin und Nordrhein-Westfalen, das umfassende gesellschaftliche Teilhabe für Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, sichert und die interkulturelle Öffnung von Institutionen fördert.
  • Den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Verwaltungen und Behörden, insbesondere der Polizei, zu erhöhen.
  • Den Ausbau von demokratischen Beteiligungsformen wie Bevölkerungsräten und die Erprobung von innovativen Partizipationsmöglichkeiten, um mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, an demokratischen Entscheidungen mitzuwirken.
  • Das Kommunale Wahlrecht für Staatsangehörige aus Ländern außerhalb der Europäischen Union, wenn ihr ständiger Wohnort in Deutschland liegt.
  • Eine Ausweitung des Geburtsrechts: Kinder, die in Deutschland auf die Welt kommen, sollen von Geburt an die deutsche Staatsbürgerschaft haben, wenn mindestens ein Elternteil einen legalen Aufenthaltstitel besitzt.
  • Den Optionszwang im Staatsbürgerschaftsrecht endlich abzuschaffen. Wir wollen Einbürgerungen beschleunigen - niemand sollte 8 Jahre warten müssen - und die Miteinbürgerung von Familienangehörigen erleichtern.
  • Die Aufnahme von Antidiskriminierung und gesellschaftlicher Vielfalt in die Lehrpläne, um Vielfalt zur Selbstverständlichkeit zu machen.

Es reicht nicht, Rechtsextremismus und Rassismus zu bekämpfen und uns konkreten Ausschlüssen entgegenzustellen, wir müssen die Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen. Demokratie braucht Zusammenhalt. Und Zusammenhalt braucht soziale Teilhabe. Gerade diese wird jedoch insbesondere vielen Menschen mit Migrationshintergrund verwehrt. Wir stehen für eine Sozialpolitik, die allen Menschen, gerade auch jenen die von besonderen Härten betroffen sind, ein Leben in Würde ermöglicht. In einer vielfältigen Gesellschaft darf die Zukunft von Kindern nicht durch Rassismus behindert werden. In Kitas und Schulen wird der Grundstein für das Leben junger Menschen gelegt. Deshalb brauchen wir Bildung, die allen dieselben Chancen bietet und Kinder individuell fördert. Demokratisches Miteinander setzt Orte der Begegnung und des Austauschs voraus. In den letzten Jahren gehen gerade in ländlichen Gebieten Jugendzentren, Kultureinrichtungen und Sportclubs immer mehr verloren. Dem wollen wir durch Investitionen in die soziale Infrastruktur, soziale Arbeit und Bildung entgegensteuern. So stärken wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wir bekämpfen Rassismus und Rechtsextremismus und entziehen ihm gleichzeitig den Nährboden durch die gemeinsame Gestaltung einer vielfältigen Gesellschaft, die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft und die Förderung des sozialen Zusammenhalts.

Ein wichtiger Prozess nach dem Anschlag in Hanau war der Kabinettsausschuss der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Er hat Ende letzten Jahres seinen Maßnahmenkatalog vorgestellt. Viele dieser Maßnahmen sind aus unserer Sicht und aus Sicht der Zivilgesellschaft begrüßenswert.