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Impulspapier zur Gründung des Vorstandsbeirats Bündnisgrüner Osten

picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Ehrlich, streitbar, nahbar: Ein Impulspapier zur Gründung des Vorstandsbeirats Bündnisgrüner Osten von Felix Banaszak und Dr. Heiko Knopf.

Hier gibt es das Impulspapier zum Download.

Ausgangslage: Der Osten ist unser Realitätstest

Wer im Osten die Fünf-Prozent-Marke in den letzten Jahren häufiger von unten als von oben gesehen hat, muss sich die Frage stellen: Haben wir den Osten aufgegeben – oder der Osten uns? Unsere Antwort ist kein Befund, sondern ein Anspruch: Weder noch. Weder glauben wir, als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keine Antworten auf die politischen Herausforderungen in den ostdeutschen Regionen mehr zu haben, noch halten wir es für ausgemacht, in dem von uns gezeichneten Zerrbild verbleiben zu müssen.

Unser Ziel: Präsenz und Relevanz. Was es dafür braucht? Eine bündnisgrüne Partei, die sich als gesamtdeutsche Partei versteht. Wir schreiben dieses Impulspapier als zwei Mitglieder des Bundesvorstandes, beide geboren im Wendejahr 1989 – der eine tief im Westen, in Duisburg, der andere im Plattenbau in Jena. Uns eint der Antrieb, die verheerenden Entwicklungen für bündnisgrüne Politik im Osten nicht schulterzuckend hinzunehmen, sondern aus Fehlern zu lernen und neue Wege zu gehen.

Schon nach den Europa- und Kommunalwahlen im Mai 2024 sowie den darauf folgenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen war die Lage für viele grüne Verbände in Ostdeutschland enorm angespannt. Auch wenn die Ergebnisse der Bundestagswahl im Vergleich etwas positiver ausgefallen sind, bleibt die grundsätzliche Entwicklung besorgniserregend: Das Vertrauen in die demokratischen Parteien ist tief erschüttert, in unsere erst recht. Spätestens mit der Beteiligung an der von Streit geprägten Ampel-Koalition in krisengeschüttelten Jahren hat sich die Wahrnehmung im Osten als alltagsferne westdeutsche Akademiker- und Elitenpartei verfestigt. Innerhalb der Partei wächst daher die Angst, dass unsere Präsenz und Wirksamkeit im Osten grundsätzlich in Frage steht. Es ist also dort, wo unser aktueller Veränderungsprozess, unsere Neuaufstellung für eine neue Zeit den Realitätstest bestehen muss.

Unsere Mitglieder in Ostdeutschland – von den Regierungsbänken bis in die Kommunen – haben in den letzten Jahren trotz dieser Lage unglaubliche Arbeit geleistet, für die ihnen großer Respekt gebührt. Vor allem in den Kreisverbänden mit wenig Ressourcen haben ehrenamtliche Mitglieder unter widrigsten Bedingungen bündnisgrüne Politik verteidigt und vorangetrieben. Die meisten haben sich weder von Angriffen noch von falschen Zuschreibungen in den Rückzug treiben lassen. Ihre Arbeit vor Ort hat sich den Problemen, Fragen, aber auch guten Ideen zugewandt. Und sie wurden belohnt: Auch dort sind unsere Mitgliederzahlen gestiegen. Auf Wahlergebnisse hat sich diese Entwicklung aber bislang nicht übertragen.

Im Gegenteil verstetigt sich ein problematisches Muster: Zwar sind wir in den letzten Jahren zum zentralen Objekt einer kulturkämpferischen Polarisierung geworden, doch konnten wir uns in dieser Rolle nicht zu einem zentralen Ort für fortschrittliche, demokratische Kräfte entwickeln. Das liegt auch an der sich immer wiederholenden Zuspitzung auf die Frage, ob nun die rechtsextreme AfD oder die jeweils stärkste demokratische Kraft das Rennen um Platz eins macht. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN war in dieser Auseinandersetzung in den letzten Jahren wenig zu gewinnen. Der Kampf gegen rechte Tendenzen und Mehrheiten auf dem schwankenden Boden des Populismus ist vielen unserer neuen und „alten“ Mitglieder sehr wichtig. Zu Recht. Dies allerdings teilen wir mit anderen demokratischen Parteien. Und somit reicht es nicht, diesen Kampf laut zu stellen. Wir müssen inhaltlich unterscheidbar und klar bündnisgrün auftreten und dabei die Mehrheit der Menschen im Blick behalten.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat der Bundesvorstand in den letzten Monaten eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Als nächsten Schritt setzt er nun einen Beirat ein – namentlich: den Vorstandsbeirat Bündnisgrüner Osten – der den Bundesvorstand regelmäßig und langfristig in Bezug auf ostdeutsche Belange berät. Er wird interne und externe Expertise bündeln und seinerseits Impulse für den Prozess zur Neuaufstellung und Stärkung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als gesamtdeutsche Orientierungs- und Bürgerpartei machen. Mit diesem Papier wollen wir erste Impulse für die Arbeit des Beirats setzen und die konkreten Vorschläge mit den Beiratsmitgliedern diskutieren. Ziel ist eine politische Strategie, die in Anmutung und Stil ehrlich, streitbar und nahbar ist und die inhaltlich ihre Wirkung im Alltag der Menschen entfaltet. Wir wissen, dass wir damit nicht alle Menschen erreichen werden. Jedoch schaffen wir ein Angebot, um diejenigen anzusprechen, die Verbündete für eine ökologisch-soziale Zukunft sein können.

Wir möchten mit diesem Papier unsere ganze Partei einladen, Vorschläge für die grüne Zukunft im Osten zu machen. Wir glauben daran, dass sich der Einsatz lohnt - für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, für die Menschen, Themen und Ziele, die wir vertreten, und nicht zuletzt für eine zukunftsfähige Demokratie. Wir wollen aber andererseits auch auf die Erfahrungen der Ostdeutschen zurückgreifen und sie für die gesamte Partei, das gesamte Land nutzbar machen. Die Freiheitsrevolution hat sich nicht für alle wie das Erringen von Freiheit angefühlt, sondern oft wie der Verlust der eigenen Geschichte und Geschichten. Eltern konnten ihren Kindern die Welt nicht erklären und sie haben es trotzdem geschafft, mit all dem Neuen ohne Rückversicherung klarzukommen. Uns stehen heute und erst recht künftig große Veränderungen bevor, aus den Erfolgen, dem Scheitern und den Perspektiven aus dem Osten des Landes können alle lernen.

Was es jetzt braucht: 7 Impulse für bündnisgrüne Politik in Ostdeutschland

1. Wir sind eine Partei der geteilten Geschichte – und brauchen mehr Interesse füreinander

Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fehlt ein gesamtdeutsches kollektives Gedächtnis. Die westdeutschen Referenzen der Antiatom-, der Friedens- und der Frauenbewegung sind omnipräsent, die zentralen Akteure geläufig. Unser ostdeutsches Erbe der Bürgerrechts- und Umweltbewegung und ihre Protagonistinnen sind dagegen weitaus weniger bekannt. Folglich verlaufen die Grünen Diskurse sowie die programmatische Ausrichtung auf Bundesebene überwiegend anhand westdeutscher Prägungen.

Das ist auch deshalb problematisch, weil an dieser Stelle der Westen in der Partei viel stärker von den Ansätzen der Ost-Partei und ihrer zu Grunde liegenden Bewegungen, ihrer Kultur, ihrer Unerschrockenheit lernen könnte. Die Geschichte der Runden Tische, der Politik von unten und der Sacharbeit mit Bürgerinnen und Bürgern, die Geschichte einer Offenheit für einen Pragmatismus, der nicht allein in den Programmatiken von Parteien denkt: All das sind Erfahrungen, die die Perspektiven der westdeutschen Bewegungen weitaus mehr bereichern könnten, als es im Parteialltag heute der Fall ist.

Dazu gehört auch die Anerkennung der Tatsache, dass die aus der DDR-Opposition stammenden Bündnisgrünen schon weitaus früher und konsequenter als westdeutsch sozialisierte Funktionäre den imperialen und autoritären Charakter Russlands unter Putin erkannt und benannt haben und ein besseres Verständnis für die Belange der osteuropäischen Staaten hatten.

Das Zusammenfinden von Bündnis 90 und Die Grünen war nicht ausgemacht. Große kulturelle, teils auch politische Differenzen zwischen westdeutschen Mitgliedern mit Vergangenheit in sogenannten K-Gruppen und den sich weitgehend antikommunistisch verstehenden Ost-Bürgerrechtlerinnen prägten den Prozess der Partei-Vereinigung. Das ist zum einen Geschichte. Doch noch heute sind Vorurteile und Abgrenzungen zwischen Mitgliedern aus Ost und West zu spüren. Das äußert sich beispielsweise daran, dass bei Personenwahlen „Wessis“ häufig gefragt werden, was sie denn für den Osten zu tun gedenken – und darauf oftmals unbeholfen in dem Versuch einer Antwort reagieren. Der Westen der Partei wiederum sollte sich dem Osten des Landes weder mit wachsender Ungeduld, noch mit der überheblichen Ablehnung der in Wahrheit unbekannten politischen Verhältnisse widmen, sondern mit ernsthaftem Interesse, Augenhöhe und der Bereitschaft, zuzuhören und zu lernen.

Wir schlagen deshalb zum einen eine Bilanz grüner Politik seit der Wiedervereinigung mit Fokus auf den Eingang ostdeutscher Perspektiven vor: Womit haben wir im Osten überzeugt, womit nicht, und warum? Welche Rolle spielten ostdeutsche Perspektiven in den Nachwendejahren, welche Verletzungen im Vereinigungsprozess von Bündnis 90 und den Grünen sind entstanden? Zum anderen nehmen wir uns vor, Räume gesamtdeutscher Geschichtsschreibung zu schaffen. Ziel ist es, mit dem gründlichen Blick auf die Erfolge und Mängel der vergangenen 35 Jahre Gemeinsamkeiten für eine neue gesamtdeutsche bündnisgrüne Perspektive zu schaffen.

2. Ins Machen kommen: Präsenz schafft Vertrauen

Zurecht diskutieren wir seit jeher über die Repräsentanz ostdeutscher Biografien in den Spitzen unserer Partei. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass mehr ostdeutsche Köpfe an entscheidenden Stellen wirken. Auch ohne formale Quote muss bei der Besetzung klar sein, dass Ostdeutschland mit am Tisch sitzt. Dazu gehört auch, Nachwuchskräfte frühzeitig zu identifizieren und die Talente vor Ort gezielt zu fördern. Der Bundesvorstand wird dazu ein Mentoringprogramm Ost auf den Weg bringen, bei dem gezielt auch westdeutsche Amts- und Mandatsträgerinnen Verantwortung für die Personalentwicklung übernehmen.

Doch es ist mehr als das: Unsere Partei braucht eine Präsenzoffensive in den ostdeutschen Bundesländern. So gerne die Berliner Politik am dritten Oktober über die Belange der ostdeutschen Bundesländer spricht – zur Ehrlichkeit gehört, dass wir zu wenig vor Ort sind und der strukturelle regelmäßige Austausch oft zu kurz kommt. Das liegt auch daran, dass überregional bekannte Amts- und Mandatsträgerinnen überdurchschnittlich häufig von strukturstärkeren Kreis- und Landesverbänden aus Westdeutschland eingeladen werden – allein, weil es schlichtweg mehr Verbände in Westdeutschland gibt. Gemeinsam mit der Bundestagsfraktion drehen wir den Spieß um: Abgeordnete und Vorstandsmitglieder sollen zukünftig gezielt auf ostdeutsche Landes- und Kreisverbände zugehen und niedrigschwellige Formate zur Präsenzsteigerung anbieten, statt auf eine Anfrage zu warten. Aus der Holschuld wird die Bringschuld.

Wir wollen jetzt ins Machen kommen und legen den Grundstein für die Offensive: Der Bundesvorstand veranstaltet einen Ostkongress noch in diesem Herbst, der grüne und grünen-nahe Akteure in und für Ostdeutschland vernetzt und explizit auch westdeutsche Mitglieder einlädt, die Perspektiven des Ostens kennenzulernen und in die eigene Arbeit einfließen zu lassen. Darüber hinaus haben wir bereits im April dieses Jahres weitere Formate vorgestellt, mit denen wir unsere Präsenz in Ostdeutschland erhöhen werden, darunter:

  • Eine deutlich höhere Besuchsfrequenz in den ostdeutschen Landes- und Kreisverbänden, bei Neumitgliedertreffen und anderen Mitgliederveranstaltungen.

  • Regelmäßige mobile Bürgergespräche zu tagesaktuellen und übergreifenden Themen, bei denen (Bundes-) Politik, lokale Wirtschaft und die Stadt- oder Dorfgesellschaft ins Gespräch kommen.

  • Regelmäßige exklusive Pressearbeit mit ostdeutschen Medien und der gezielte Austausch mit ostdeutschen Redaktionen.

3. (Zurück) zu politischer Gestaltungsmacht

Wollen wir etwas verändern, müssen wir zwingend in die Landes- und Kommunalparlamente und dort für demokratische, fortschrittliche Mehrheiten kämpfen. Die offensichtliche Herausforderung ist, dass hier begrenzte Ressourcen auf eine stark angespannte politische Ausgangslage treffen. Wir regen an, das Ziel der Gestaltungsmacht in den ostdeutschen Parlamenten fest zu verankern und uns danach auszurichten. Es muss das Interesse der gesamten Partei sein, dass unsere Landesverbände in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern 2026 in beide Landtage einziehen, und entsprechend sollten wir uns aufstellen und handeln. Die erfolgreichen Kreisverbands-Partnerschaften zwischen Ost und West wollen wir deshalb für das nächste Jahr intensivieren und die Protagonistinnen in die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesverbandes deutlich stärker integrieren.

Damit dies von Erfolg gekrönt ist, schlagen wir kurz- und mittelfristig eine strategische Fokussierung auf Orte vor, an denen wir bereits stärker verankert sind, wo bereits Strukturen existieren und wo unsere Themen auf einen gewissen Resonanzboden stoßen. An diesen Orten stärken wir die positiven Entwicklungen aus dem Osten – vom erfolgreichen kommunalen Klimaschutzprojekt bis zu grünen Regierungserfolgen auf Landesebene. Von den Ankerpunkten aus können wir gezielt Wirkung entfalten, Erfolge verstärken und dann weiter ausgreifen.

Zudem schlagen wir in engster Zusammenarbeit mit den Landesverbänden einen strategischen Zweiklang vor, um den unterschiedlichen Vorbedingungen in den Regionen gerecht zu werden: In einigen Gegenden ist es zunächst unsere Aufgabe, aus einer strukturell ablehnenden Haltung gegenüber unserer Partei eine strukturelle Offenheit zu schaffen. Im Klartext: aus viel „Nein, niemals.“ gegenüber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss dort mehr „Vielleicht“ werden. Dazu braucht es eine grundsätzliche neue Strategie, die ost- und westdeutsche Personen und Themen für eine erfolgreiche Annäherung identifiziert. In anderen Gegenden konkurrieren wir bereits um größere Wählerpotenziale. Hier gilt es, wie oben beschrieben Ressourcen zu bündeln, und im Zweifel Abstriche an anderen Stellen zu machen, um erfolgreich zu sein.

4. Der Alltag ist politisch – und braucht eine Politik auf Augenhöhe

Wer Menschen erreichen, sie begeistern oder zunächst einmal für sich öffnen will, muss ihre Sprache sprechen und in ihrem Alltag präsent oder zumindest vorstellbar sein. Der Alltag von Menschen ist nicht profan, sondern hochpolitisch. Ob es Jobs gibt oder nicht, hängt auch von Politik ab. Ob es einen Bus gibt und wie oft er fährt, entscheidet Politik. Ob Ämter und Behörden als dysfunktional oder dienend wahrgenommen werden, ist Ergebnis von Politik. Wofür Geld da ist und wofür nicht: Kern von Politik!

Gleichzeitig ist es gerade auch im Osten wichtig, wo sich vor einer Generation Menschen ihre individuelle Freiheit in Alltag und Privatsphäre erkämpft haben, dass wir der Versuchung widerstehen, zu staatsgläubig in die Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen einzugreifen. Blutleere, technokratische Floskeln und Theoriedebatten mögen einen festen, aber sehr kleinen Kern grüner Wählerinnen und Wähler ansprechen – die Herzen der Massen gewinnt man damit nicht. Vielfaltspolitik muss als gesamtgesellschaftlicher Einsatz für Freiheit, Sicherheit und Selbstbestimmung verstanden und benannt werden und nicht als aus- und abgrenzender Kampf für Sonderrechte.

Es geht nicht allein um Kommunikation, es geht vor allem um Haltung: Wer sind wir und für wen machen wir wie Politik? Auch wenn mit diesem Begriffspaar noch nicht alles beschrieben ist, können Ehrlichkeit und Empathie den Rahmen für den Angang an grüne Politik beschreiben. Es geht darum, offenkundige Realitäten als solche zu benennen, Menschen als mündige Gestalterinnen ihres Lebens zu verstehen und sie aktiv einzubinden. Es geht darum, Brüche und Zumutungen anzuerkennen und fair abzufedern, statt sie in samtiger Rhetorik zu verklären.

Die Frauen- und Gleichstellungspolitik in Deutschland hat maßgebliche Entwicklungen durch ostdeutsche Vorbilder und Forderungen gehabt. Beispiele sind ein besseres Netz an Kitaplätzen oder eine höhere Berufstätigkeit von Frauen im Osten. Doch nicht jeder feministische Diskurs wird von Frauen im Osten als alltägliche Auseinandersetzung mit erlebten Ungerechtigkeiten empfunden. Es darf uns nicht um den Begriff gehen, sondern um eine Verbesserung der Lebenssituationen und Verhältnisse, damit junge, gut ausgebildete Frauen eben nicht die Region verlassen, sondern bleiben oder zurückkehren. Gerade im Osten droht der rechtspopulistische Kulturkampf, Frauen wieder zurück in überkommene Rollenbilder zu drängen und zu marginalisieren.

Wir sollten allerdings nicht verkennen, dass es auch 35 Jahre nach der friedlichen Revolution um Identitätsfragen geht. Das in Umfragen diagnostizierte Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein, wird sich auch nicht mit einer höheren Taktfrequenz des öffentlichen Nahverkehrs lösen lassen. Dem können wir nur begegnen, wenn wir nicht den Eindruck erwecken, dass wir die besten Ideen haben, die im Osten nur noch nicht verstanden worden sind. Sondern indem wir hören, fragen und etwas ausrichten mit dem Gelernten.

Eine Partei mit geteilter Geschichte ist auch eine vielsprachige Partei. Oft genutzte Sprachbilder und Narrative können unterschiedlich oder sogar gegensätzlich verstanden werden. Wir schlagen deshalb vor, unsere Kommunikation rückblickend und für die Zukunft auf Widersprüche und mögliche Fehlinterpretationen zu überprüfen und für Politikbereiche wie die Außen-, Wirtschafts- oder Innenpolitik gemeinsame Narrative zu entwickeln.


5. Klima-, Umwelt und Wirtschaftspolitik muss ambitioniert sein - und gerade deshalb sozial und ökonomisch machbar

Grüne „Transformationspolitik“ – wir benutzen einmal dieses sperrige und historisch belastete Wort – hat es derzeit nicht leicht. Zu groß sind die Beharrungskräfte, zu stark die Interessen derer, die ihr Geschäftsmodell um alles in der Welt aufrecht erhalten wollen, auch wenn es mit der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen einher geht. Zu groß sind aktuell aber auch die Hürden für einen erfolgreichen Wandel hin zur klimafreundlichen Produktion, zu nachhaltigen Geschäftsmodellen. Die Skepsis gegenüber dem Gelingen eines solchen Wandels ist in den ostdeutschen Regionen wesentlich größer als im Westen. Menschen im Osten haben über drei Generationen mehrere große Veränderungswellen erlebt. Sie kennen daher die Risiken, die mit Strukturbrüchen, mit dem Verlust von Arbeit, Wohlstand und Identität einhergehen können. Viele Menschen sind müde, teils traumatisiert, von den bereits erlebten Veränderungen oder haben Angst vor dem Verlust des eigenen Wohlstands.

Deshalb braucht es mehr als warme Worte. Bei der Frage der Akzeptanz für den Kohleausstieg geht es um Stimmungen, um Anerkennung und Wertschätzung von Lebensleistungen. Es dürfen nicht wieder Dinge angekündigt werden, die dann nicht eingehalten werden. Weder die Politik noch Interessenverbände oder Gewerkschaften dürfen jetzt falsche Hoffnungen schüren. Was wir brauchen, ist ehrliche Aufmerksamkeit und ernst gemeinter langfristiger politischer Rückhalt für eine gute Zukunft der Regionen. Es braucht eine positive Dynamik, eine systematische und regional differenzierte Analyse, welche Zukunftsbranchen sich in Clustern wo ansiedeln können.

Ausklingende Technologien künstlich und teuer am Leben zu halten, während andernorts bereits mit neuen Technologien, mit Innovationen und moderner Produktion Wohlstand aufgebaut wird, ist das Gegenteil von guter Politik für unser Land. Weiten wir unseren Blick vom Kohleausstieg hin zur ganzheitlichen Frage, wie wir eine Region mit attraktiven und zukunftsfesten Branchen, mit Jobs für Frauen und Männer, für alle Generationen schaffen. Und nehmen wir bei dieser großen Chance die junge Generation mit. Es geht schließlich um ihre Zukunft. Sie verdienen dieselben Entfaltungsmöglichkeiten wie die Generationen vor ihnen.

Wenn Klimapolitik aus abstrakten Zielen konkrete Maßnahmen ableitet, landet sie unweigerlich im alltäglichen Leben von Menschen. Aber wenn sie im Heizungskeller oder der Garage ankommt, trifft sie im Osten auf andere Realitäten als im Westen. Geringere Löhne, ein deutlich geringerer Vermögensaufbau und damit eine geringere Kauf- und Investitionskraft sowie ein hoher Sanierungsdruck, der auf die erste Sanierungswelle im Osten in den frühen 1990er Jahren folgt, sind zentrale Faktoren. Sie haben dazu beigetragen, dass das Gebäudeenergiegesetz in den ostdeutschen Regionen noch stärker in Frage gestellt oder gar aktiv bekämpft wurde, als im übrigen Bundesgebiet.

Wer eine ambitionierte ökologische Politik betreibt, muss sie sozial gerecht ausgestalten und wirtschaftlich klug einbetten. Deshalb entwickeln wir für die Bundesdelegiertenkonferenz im November einen umfassenden Aufschlag für eine „Klimasozialpolitik“, die diesen Namen verdient und Grundlage dafür ist, den europäischen Green Deal gegen die Angriffe von CDU, CSU, FDP und AfD zu verteidigen.

Ohne die Akzeptanz vor Ort und ohne das Zutrauen, dass der Prozess ein fruchtbringender ist, werden wir am Ende alles verlieren: den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Modernisierungschancen für die Wirtschaft, die Klimaziele und schlimmstenfalls auch die Stabilität der Demokratie. Auch auf bundespolitischer Ebene braucht es das Bewusstsein: Einen maßgeblichen Einfluss haben in dieser Gemengelage nicht nur die technischen und ökonomischen Zwänge, sondern die Lebensrealitäten vor Ort. Wenn Züge nur auf eingleisigen Schienen fahren oder wenn der Internetzugang seit Jahren nicht schneller wird, wenn durchschnittlich fünf Stunden mehr pro Woche für das gleiche Geld gearbeitet werden muss als im Westen, dann sind das täglich sichtbare Zeichen dafür, dass die Probleme des Ostens noch immer nicht ausreichend angegangen werden.

6. In einer Welt der Konflikte den Frieden suchen – ohne Naivität, aber mit Empathie

Die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland ist seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine tiefgreifend in Bewegung geraten. Die „Zeitenwende“ markiert einen historischen Bruch – mit Folgen für Haushaltspolitik, Wehrstruktur und internationale Verantwortung. Diese Zumutungen haben die Menschen im Land hart getroffen und tun es noch immer. Im Osten Deutschlands treffen sie zudem auf eine Gesellschaft, die historisch geprägt ist von den Erfahrungen mit einem militarisierten, nach außen abgeschotteten und nach innen autoritären Staat. Das Wissen um die Rolle Russlands hat bei den einen zu einem ungetrübten Blick beigetragen, bei anderen wiederum Sorge vor militärischer Eskalation befördert. Die Rolle der ostdeutschen Regionen für die sicherheitspolitische Aufstellung der Bundesrepublik ist auch deshalb eine besondere.

Kern und Ziel bündnisgrüner Außen- und Sicherheitspolitik sind Frieden und Freiheit. Gerade mit Blick auf Russland erwarten viele Menschen in Ostdeutschland nicht nur inhaltliche Klarheit und Schärfe, sondern auch ein friedenspolitisch begründetes Narrativ, das Angst und Zweifel ernst nimmt, ohne an Klarheit in Analyse und Handlungen zu verlieren. Es ist nicht immer Russland- oder gar Putin-Nähe, sondern oftmals auch die historisch begründete Angst vor Russland, die die zögerliche Haltung in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine begründen. Die Sorgen vor einer militärischen oder sogar nuklearen Eskalation müssen mit Verständnis für den Ursprung dieser Ängste, mit Empathie und guten Argumenten aufgegriffen werden.

Die Skepsis gegenüber milliardenschweren Verteidigungsinvestitionen ist auch Ausdruck realer Einkommens- und Vermögensungleichheiten und der Erfahrung, dass Infrastruktur, Daseinsvorsorge und freiwillige Leistungen wie Kultur und Sport vor Ort nicht ausreichend finanziert sind.

Eine verantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik will Frieden und Sicherheit bewahren. Sie muss sich unserer Geschichte und aus unserem demokratischen Verständnis folgend auf eine feste demokratische Verankerung gründen. Dies gilt es immer wieder zu erläutern, auch und gerade dort, wo Zweifel am lautesten sind. Wir schlagen deshalb gezielte Bürger-Dialogformate vor, bei denen vor Ort außen- und sicherheitspolitische Fragen ehrlich und direkt diskutiert werden. Ziel ist, ein gemeinsames friedenspolitisches Verständnis zu entwickeln, das in Ost wie auch in West trägt.

7. Die Demokratie verteidigen

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurde 2024 eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft in einem deutschen Bundesland. Viele Menschen sind bereit, Rechtsextremen eine Regierungsbeteiligung zu ermöglichen. Gesellschaftliche Spaltungen, Ausgrenzung, Hass und Verlustängste beeinflussen immer stärker den politischen Diskurs. Während rechtsextreme Einstellungen zunehmen, gibt es gleichzeitig viele Menschen, die dagegen und für Demokratie auf die Straße gehen und die sich eine lösungsorientierte und menschenfreundliche Politik wünschen.

Die wachsende Dominanz rechtsextremer Strukturen ist ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko - nicht in der Zukunft, sondern hier und jetzt. Überall drohen sich zivilgesellschaftliche Akteure zurückzuziehen. Demokratische Politik muss ihnen den Rücken stärken und Solidarität zeigen, ob auf dem CSD Pirna oder beim Erhalt des Demokratieladens in Kahla. Bündnisgrüne Politik muss da sein, wenn Demokratinnen von den Feinden der Demokratie angegriffen und verfolgt werden.

Veränderte Medien- und Diskursdynamiken, die Zunahme an Desinformationskampagnen und die Erosion etablierter Medien und ihrer Formate, die Infragestellung etablierter Institutionen und ihrer Akteure, sind kein Problem des Ostens. Die weltweiten, auch europäischen Tendenzen zu Populismus und Autoritarismus, zu gelenkten Debatten mit Unwahrheiten beschäftigen uns alle. Es gibt verschiedene, auch oft strukturelle Gründe, warum sie im Osten des Landes bereits stärker verfangen als im Westen. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen und für die gesamtdeutsche Debatte die richtigen Lehren zu ziehen. Es geht längst nicht mehr darum, „etwas für den Osten zu tun“, sondern etwas für unser gemeinsames demokratisches Land zu tun, das sich gegen seine Gegner von innen wie von außen wehrhaft zeigen muss.

Gerade weil im Osten die AfD deutlich höhere Wahlergebnisse hat, wäre es fahrlässig, die Prüfung eines Parteiverbots auf die lange Bank zu schieben. Hier braucht es Mut und Entschlossenheit. Genauso bleibt es notwendig, CDU und FDP, nun aber auch das BSW, von einer Kooperation mit der AfD abzuhalten. Dieser Kipppunkt darf nicht überschritten werden. Offenkundig fehlt diesen Parteien gegenwärtig die notwendige demokratische Resilienz.

Die zerklüftete politische Landschaft macht einen höhere Bereitschaft zur Kooperation und zum Miteinander im demokratischen Spektrum notwendig. Ziel ist es, Vertrauen durch eine menschliche, integrative Politik aufzubauen, die gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Freiheit ermöglicht und gleichzeitig Verlässlichkeit schafft. Es braucht eine einbindende, integrierende Politik.

Während in der politischen Praxis naturgemäß der Streit um Lösungen dominiert, braucht es gleichzeitig eine persönliche, menschliche Ebene des konstruktiven Miteinanders und die Fähigkeit zu Bündnissen. So kann das Vertrauen geschaffen werden, dass Parteien integer arbeiten, dass sie die Lösung der Probleme über ihre parteipolitischen Befindlichkeiten stellen und dass sie den Menschen die Mittel und Wege zugestehen, die nötig sind, um als Gesellschaft die anstehenden Probleme zu lösen.

Ein deutlich höheres Vertrauen als gegenüber dem System oder den Parteien wird Einzelpersonen zugesprochen. Daher sollten Sympathie, Überzeugungskraft und Authentizität eine entscheidende Rolle bei der Aufstellung von Personen einnehmen als innerparteiliche Logiken, insbesondere wenn es um besonders prominente Kandidaturen geht.

Abschluss: Machen wir uns auf den Weg

Nein, es ist nicht das erste Mal, dass sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vornehmen, den Osten (zurück) zu gewinnen. Offenkundig ist in der Vergangenheit einiges nicht richtig gelaufen. Diese Impulse sind weder vollständig noch sind wir vollständig sicher, mit ihnen richtig zu liegen. Aber die Partei - und zwar die gesamte Partei - muss diese Debatte führen. Wenn wir das Ziel haben, eine Partei für das ganze Land zu sein, leiten sich daraus zwingend Aufgaben ab. Mit den Herausforderungen wollen wir nicht diejenigen alleine lassen, die sich schon jetzt beständig gegen den scharfen Wind stellen. Wir begreifen es als unser aller Aufgabe – für unser aller Zukunft. Machen wir uns also auf den Weg – es gibt viel zu gewinnen.

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