Zum Wert des Begriffs Demokratie in grünen Grundsatzprogrammen

Demokratie ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Wir merken stärker als jemals zuvor in unserer grünen Geschichte, dass wir sie verteidigen und schützen müssen erklärt Michael Kellner in seinem Debattenbeitrag.

Porträtfoto eines Mannes.

© Rasmus Tanck

Michael Kellner

Politischer Bundesgeschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Es kommt nicht allzu oft vor, dass eine Bewegung, eine Partei über ein Grundsatzprogramm und damit ihre grundlegenden Werte verhandelt. In der Geschichte der GRÜNEN Partei gab es das bisher erst drei Mal. 1980 mit unserem ersten Programm, 1993 mit dem Grundkonsens beim Zusammenschluss von BÜNDNIS 90 und DIE GRÜNEN sowie zuletzt 2002.

Gerade für unsere Arbeitsgruppe sind die Begriffe Demokratie und Selbstbestimmung bzw. Freiheit von besonderer Bedeutung.

Im Folgenden soll es um den Demokratiebegriff gehen. In allen drei Programmen kam er vor.

1980 stand der Begriff "basisdemokratisch" als einer von vier zentralen Begriffen im Zentrum. Verstanden wurde es 1980 als Kritik an der bestehenden Demokratie. Der erste Satz im Kapitel Demokratie lautete "Basisdemokratische Politik bedeutet verstärkte Verwirklichung dezentraler, direkter Demokratie. Wir gehen davon aus, daß der Entscheidung der Basis prinzipiell Vorrang eingeräumt werden muß. Überschaubare, dezentrale Basiseinheiten (Ortsebene, Kreisebene) erhalten weitgehende Autonomie und Selbstverwaltungsrechte zugestanden." Diese sehr starke Engführung des Demokratiebegriffs war direkt verbunden mit der Organisation der neuen Partei. Letzteres hat sich an mancher Stelle verändert, Stichwort Rotationsprinzip oder Professionalisierung, doch geblieben sind die - nach wie vor hohen - Autonomierechte der Kreisverbände und dass die GRÜNEN weiterhin enorm beteiligungsorientiert sind. Nicht zuletzt wollen wir den Prozess zum neuen Grundsatzprogramm dafür nutzen, neue Möglichkeiten der Onlinebeteiligung mit unseren bisherigen Strukturen zu verweben.

Im Zuge der weiteren Entwicklung der GRÜNEN hat sich auch der Demokratiebegriff erweitert. 1993 wurde der Begriff "basisdemokratisch" durch Demokratie ersetzt. Neu hinzugekommen ist der Repräsentanzcharakter, "gleiche Teilnahme aller an der Gestaltung des Gemeinwesens". Dieser Repräsentanzcharakter wurde bereits durch das 1986 eingeführte Frauenstatut im Innenleben der Partei enorm gestärkt. Zugleich wurde Demokratie in den Folgejahren zunehmend auch als Inklusion von Minderheiten verstanden und gelebt. Geblieben ist das Bekenntnis zur direkten Demokratie und die allerdings moderatere Kritik an der repräsentativen Demokratie, mit ihren Ausprägungen wie "Sperrklausel, das Übergewicht der Exekutive, den Fraktionszwang, Abhängigkeit von Spendengeldern u.a." Auffällig ist, dass der Grundkonsens stark die Demokratisierung nach außen betont und dabei u.a. Wirtschaft und die Europäische Union in den Blick nimmt.

2002, mit vier Jahren Regierungserfahrung auf Bundesebene, verschiebt sich der Fokus erneut. "Unser Denken gründet sich auf der Demokratie. Zur Demokratisierung unsere Gesellschaft haben wir …einen wichtigen Beitrag geleistet." Es werden berechtigterweise grüne Erfolge bei der Demokratisierung unserer Gesellschaft betont und klar benannt, dass wir uns nicht auf dem Status quo ausruhen wollen, sondern unsere Gesellschaft weiter demokratisieren möchten. Gleichzeitig wird auch hier wieder die direkte Demokratie betont. Die Wahlprogramme nach 2002 sind auf dieser Linie geblieben. Politisch wollten wir die Einbeziehung weiterer Gruppen in unsere Demokratie erreichen durch das Wahlalter 16 und das Wahlrecht für Ausländer. Hinzu kommen moderate Kritik am Parteiensystem und das Bekenntnis zur direkten Demokratie.

2018 ist das anders. 2002 haben wir Demokratie als selbstverständlich hingenommen. Wir haben sie partizipativ definiert – sozusagen als weiteren Schritt - und nicht als System hinterfragt oder verteidigt. Heute müssen wir schmerzlich erfahren, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern wir für sie kämpfen, sie schützen müssen. Wir erleben weltweit den größten Rückschlag an Demokratisierung seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch in Deutschland nehmen Angriffe auf unsere Demokratie zu. Errungenschaften, wie die Gleichstellung der Frauen, werden massiv angegriffen, die Offenheit unserer Demokratie für Menschen von außerhalb brutal bekämpft. Rechtsstaatlichkeit wird in unseren Nachbarländern massiv unterhöhlt.

Heute wird Demokratie als System angegriffen. Es gibt auch eine progressive Wut dagegen, sei es beim Shitstorm gegen Talkshow-Titel, #metoo, #reconquistaInternet oder bei Aufrufen wie Solidarität statt Heimat. Wir müssen diese progressive Wut aufgreifen, den Demokratiebegriff weiter fassen und verteidigen. Denn für uns schließt er auch den Gedanken der Vielfalt ein, umfasst die Rechte von Minderheiten, die Gleichberechtigung von Frau und Mann, garantiert den Freiraum für Selbstbestimmung. Uns genügt es eben nicht, wenn Demokratie nur für wenige gilt, wenn nur für bestimmte Gruppen Teilhaberechte und echte Souveränität bestehen. Deswegen waren wir in den 1980er Jahren auch nicht damit zufrieden, dass im Deutschen Bundestag Frauen, "Gastarbeiter", Lesben oder Schwule kaum oder keine Stimme hatten. Demokratie bedeutet für uns immer mehr als bloß eine Regierungsform und auch mehr als nur Minderheitenschutz. Für uns bedeutet Demokratie immer auch die Einbeziehung aller in Teilhabe- und Selbstbestimmungsrechte und der gleiche Zugang zur Gesellschaft für alle Gruppen.

Daraus ergibt sich meines Erachtens die unbedingte Notwendigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als System zu begründen und zu verteidigen. Dazu gehört auch, die Regeln und Gepflogenheiten des Parlaments hochzuhalten und Entscheidungen des Parlaments zu verteidigen (auch wenn es sehr häufig anders abstimmt als wir es uns wünschen). Das ist zu einer wichtigen Aufgabe gerade unserer Bundestagsfraktion geworden. Und zu einer zermürbenden Aufgabe obendrein.

Demokratie zu verteidigen ohne einfach nur auf einen Status quo zu verfallen, ist eine verdammt schwierige Aufgabe, die wir im neuen Grundsatzprogramm lösen müssen. Die Menschen erwarten, dass Demokratie Wohlstand, Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit, ein friedliches Zusammenleben, Freiheit, Selbstbestimmung, Menschenrechte sowie eine gesunde Umwelt herstellt. Wenn wir nicht erklären können, wie die plurale Demokratie auch in Zeiten von globalem Kapitalismus und digitaler Macht genau das schaffen kann, werden wir den Kampf um sie verlieren. Wir müssen in unserem Programm also erklären können, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit den großen Herausforderungen der Zeit – Klimawandel, Digitalisierung, multiethnische Gesellschaften und globaler Kapitalismus – fertig werden kann.

Deshalb muss Demokratie als Wert zentral sein, möglicherweise zentraler als im letzten Programm. Er muss Solidarität mit gesellschaftlichen Gruppen ausdrücken und wir müssen benennen, dass es Feinde der Demokratie in und außerhalb unseres Landes gibt, die unserem demokratischen System den Krieg erklärt haben. Es ist auch unsere Rolle im Grundsatzprogramm unser Ziel zu benennen: Nämlich Demokratie und Rechtsstaat zu stärken. Erst dieser Rahmen ermöglicht, die freie Selbstbestimmung des Einzelnen mit den Rechten anderer zu verbinden. Und nur durch demokratische Prozesse ist die Beschränkung der Rechte von Dritten legitim. Und noch etwas sticht ins Auge: in der vielfältigen Literatur zur Demokratie und ihrem Erhalt gibt es viele verschiedene Analysen. Doch einen Punkt teilen fast alle: extreme Ungleichheit ist nicht vereinbar mit Demokratie.