Strukturen der Ungleichheit bekämpfen

In einer inklusiven Gesellschaft können alle Menschen teilhaben, unabhängig von ihrer Herkunft, ihres Wohnortes, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer individuellen Fähigkeiten. Voraussetzung für den Zusammenhalt einer solchen Gesellschaft ist ein handlungsfähiger Staat, der Chancen und Teilhabe durch starke öffentliche Institutionen sicherstellt. Ein Debattenbeitrag von Anton Hofreiter zum Grundsatzprogramm.

Ein solcher Staat garantiert zu jeder Zeit eine Absicherung gegen die großen Lebensrisiken wie Altersarmut, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit. Klare Spielregeln und deren Durchsetzung sorgen dafür, dass einzig die eigene Leistung darüber entscheidet, ob jemand am Ende des Monats mehr im Geldbeutel hat als andere. Eine solche Gesellschaft garantiert gesellschaftliche Teilhabe und verhindert eine immer größer werdende und sich verfestigende Ungleichheit.

Leider wird die Wirklichkeit diesem Anspruch immer weniger gerecht. Die verschiedenen staatlichen Ebenen haben in den vergangenen Jahrzehnten das Heft des Handelns mehr und mehr aus den Händen gegeben. Der Staat hat sich zurückgezogen und überlässt zu viele Entscheidungen dem Markt. Die Folgen reichen von der Klimakrise, über Finanzmarktkrisen bis hin zum Sterben von Einzelhändlern und mittelständischen Unternehmen, die im unfairen Wettbewerb gegen Amazon und Co. nicht bestehen können. Kein Wunder, wenn dann die Politikverdrossenheit steigt, und das Vertrauen in „die Politik“ zur Lösung der großen Herausforderungen, wie etwa dem dringend notwendigen ökologischen Umbau, in weiten Teilen der Bevölkerung sinkt.

So fielen etwa dem Spardiktat von Bund, Ländern und Kommunen etliche Stellen im öffentlichen Dienst zum Opfer. In den Bereichen Bau, Wohnungswesen und Verkehr der kommunalen Verwaltungen ging die Zahl der Beschäftigten von 1991 bis 2001 um ein ganzes Drittel zurück. Zwar hat der öffentliche Dienst von 2005 bis 2015 wieder zugelegt, bleibt aber dennoch hinter dem Beschäftigtenanstieg in der Gesamtbevölkerung zurück. Erschwerend kommt hinzu, dass in den kommenden Jahren 1,5 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst in den Ruhestand gehen. Unterm Strich fehlen heute in den Kommunalverwaltungen mehrere Hunderttausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die geringen Kapazitäten in den Bau- und Planungsämtern führen dazu, dass selbst zur Verfügung stehende Mittel nicht abgerufen werden können. In den letzten Jahren wurde folglich deutlich weniger in Straßen, Schulen und Gebäude investiert, als diese an Wert verloren haben. Wir verlieren also wertvolle Zeit, genau dann, wo wir eigentlich beherztes Handeln bräuchten. Wer die Klimaziele 2030 und 2050 erreichen will - und das müssen wir, wenn wir unseren Kindern einen lebenswerten Planeten hinterlassen wollen - der kann sich ein Planungschaos wie am BER oder dem Stuttgarter Bahnhof nicht erlauben.

Die gute Konjunktur der letzten Jahre hat die Finanzsituation von Bund, Ländern und Kommunen zwar deutlich verbessert. Das gilt aber nicht für Kommunen in strukturschwachen Räumen. Sie können keine oder nur wenige Investitionen in kommunale Infrastruktur und Daseinsvorsorge leisten und häufen Schuldenberge an. Baufällige Schulen, schlechte Betreuungsschlüssel, fehlende Busse und Bahnen, schließende Schwimmbänder und Theater sind die Folge. Die regionalen Disparitäten in Deutschland sind sehr hoch, auch im europäischen Vergleich. So hatten die zehn reichsten Kreise und Städte im Jahr 2013 ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von über 100.000 Euro, die zehn ärmsten Kreise von unter 50.000. Zu einem hohen Ost-West-Gefälle gesellt sich ein steigendes Nord-Süd-Gefälle. Von einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und echter Teilhabe an der Gesellschaft unabhängig vom Wohnort kann unter diesen Vorzeichen nicht gesprochen werden.

Die ungleiche Verteilung von Teilhabechancen in Deutschland zeigt sich auch bei den Einkommen und Vermögen. So hat die ungleiche Einkommensverteilung seit Beginn der 2000er Jahre deutlich zugenommen. Die Ursache sind die Zunahme atypischer Beschäftigung, der zunehmende Niedriglohnbereich sowie die nachlassende Tarifbindung. Hinzu kommt die zunehmende Konzentration sehr hoher Einkommen. Konnte das oberste Prozent der Einkommensverteilung im Jahr 1995 rund 9 Prozent des Gesamteinkommens auf sich vereinen, waren es im Jahr 2008 bereits 13 Prozent.

Eine deutlich stärkere Ungleichheit ist bei den Vermögen zu verzeichnen. Während die untere Hälfte der Haushalte nur über 1 Prozent des gesamten Nettovermögens verfügt, besitzen die obersten 10 Prozent über mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens. Eine sehr hohe Konzentration findet sich hierbei beim obersten Prozent der Vermögenden. Dieses vereint heute etwa ein Drittel des gesamten Nettovermögens auf sich, also knapp doppelt so viel wie noch im Jahr 2012. Für das Zustandekommen hoher und sehr hoher Vermögen sind Erbschaften, Schenkungen und Unternehmertum ausschlaggebend, weniger die Höhe des Einkommens. Berechnungen zufolge beläuft sich das gesamte Erbvolumen in Deutschland auf jährlich bis zu 400 Milliarden Euro. Im krassen Gegensatz dazu ist es heute quasi unmöglich, durch Arbeit reich zu werden.

Für die Zukunft ist das doppelt schlecht: Neuesten Studien aus den USA zufolge sind ungleiche Gesellschaften mit einer hohen Anzahl an Superreichen besonders klimaschädlich. So haben etwa die US-Bundesstaaten mit einer besonders hohen Einkommenskonzentration gleichzeitig einen besonders großen Pro-Kopf-Treibhausgasausstoß. Denn bei einer hohen Konzentration von hohen Einkommen und Vermögen steigt auch deren Lobbymacht und die Möglichkeit auf Klimaschutz-Regulierungen Einfluss zu nehmen. Diese Erkenntnis deckt sich mit Untersuchungen im Rahmen des 5. Armuts- und Reichtumsberichts, wonach politische Entscheidungen mit größerer Wahrscheinlichkeit den Interessen höherer Einkommensgruppen entsprechen.

Die großen Lebensrisiken wie Altersarmut, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit drohen künftig nicht mehr adäquat abgesichert zu werden. Die Senkung des Rentenniveaus etwa wird aus unterschiedlichen Gründen nicht angemessen durch die Versicherten kompensiert. Unstete Erwerbsbiographien tragen zusätzlich dazu bei, dass immer mehr Menschen keine angemessene bzw. eine unzureichende Absicherung im Alter erfahren. Unterschiedliche Alterssicherungssysteme je nach Berufsgruppe führen zu nicht mehr nachvollziehbaren Ungleichbehandlungen der Bürgerinnen und Bürger. Die Arbeitslosenversicherung erreicht viele Erwerbstätige nicht, weil sie etwa Selbständige sind. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende, das letzte Auffangnetz, kann das sozio-kulturelle Existenzminimum nur unzureichend abdecken. Die Pflege- und die Krankenversicherung zementieren eine Zwei-Klassen-Medizin und werden dem Anspruch eines fairen und gerechten Versorgungsanspruches nicht annähernd gerecht.

Die ungleiche Verteilung von Teilhabechancen ist auch ein Phänomen, das wir in ganz Europa erleben. So leiden in Europa deutlich zu viele Menschen unter teils erheblichen materiellen Entbehrungen: Sie sitzen auf Hypotheken- oder Mietschulden, können ihre Wohnung nicht angemessen beheizen oder verdienen so wenig Geld, dass sie sich Dinge des alltäglichen Lebens wie einen Kühlschrank, ein Telefon oder einen Fernseher schon nicht leisten können. In Ungarn und Rumänien betrifft dies jede vierte Person, in Bulgarien sogar jede dritte. In Ländern wie Lettland, Estland oder Zypern sieht es nicht viel besser aus. Unerwartete Ausgaben für den regelmäßigen Arztbesuch, Medikamente oder eine Pflegekraft können dann schnell zur Verschuldung führen. Unzureichende oder nicht vorhandene Institutionen tragen zusätzlich dazu bei, dass Chancen zur Teilhabe in diesen Gesellschaften nicht verwirklicht werden können.

Die Analyse über den Zustand unserer Gesellschaft hier und in Europa fällt ernüchternd aus. Seit den Finanzkrisen haben sich die Lebensverhältnisse innerhalb Europas immer weiter voneinander entfernt. Trotz des konjunkturellen Aufschwunges ist es in Deutschland nicht gelungen, dem Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse näher zu kommen - ganz im Gegenteil. Der Kluft zwischen den Regionen und zwischen Arm und Reich hat sich sogar verfestigt. Die Vermögen gehen immer weiter auseinander und ein wahrscheinlich nahendes Ende des Aufschwungs würde die Ungleichheit noch weiter erhöhen. Um das zu verhindern, bedarf es nun mutiger und tiefgreifender Schritte, um die Handlungsfähigkeit des Staates zurückzugewinnen:

  1. Wir benötigen eine Offensive für die öffentlichen Räume und starke Institutionen, um Teilhabechancen zu ermöglichen. Hierfür müsste ein zweistelliger Milliardenbetrag in die Hand genommen werden, um Stellen im öffentlichen Dienst für Bildung, Betreuung, Planung, Bau und Verkehr zu schaffen und in die Infrastruktur zu investieren. Für strukturschwache Regionen braucht es einen Altschuldenfonds sowie dauerhafte und gezielte Investitionen in Schulen, Bus und Bahn, Mobilfunkzugänge sowie Schwimmbäder und andere Freizeitangebote, so dass es künftig eben keinen Unterschied für die Verwirklichung von Teilhabe mehr macht, wo jemand wohnt.
  2. Um die Qualität des öffentlichen Gemeinwesens und die gleichen Chancen auf Teilhabe zu erhöhen, benötigen wir mehr finanzielle Mittel. Dies geht einerseits über den Abbau rückwärtsgewandter und klimaschädlicher Subventionen. Andererseits müssen wir wieder darüber diskutieren, mit welchen Instrumenten wir quasi leistungslose Vermögen und Erbschaften stärker heranziehen können.
  3. Um das Entstehen von Ungleichheit bei den Einkommen bzw. das weitere Auseinanderdriften zu verhindern, bedarf es einer Verbesserung unterer und mittlerer Einkommen etwa über eine Stärkung der Tarifbindung, einen höheren Mindestlohn sowie einer stärkeren Besteuerung der Einkommen im obersten Einkommensbereich. Damit es kein Armutsrisiko mehr darstellt, Kinder zu haben, braucht es eine klare Umverteilung zugunsten der Familien im unteren und mittleren Einkommensbereich. Hierfür müssen die Kinderregelsätze erhöht und endlich eine Kindergrundsicherung eingeführt werden.
  4. Wir müssen die Zwei-Klassen-Medizin endgültig beenden und die Bürgerversicherung zum Leitprinzip unserer Sozialversicherungssysteme machen. Nur wenn alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen Teil der Versichertengemeinschaft werden, können die Sozialversicherungen ihrer Funktion gerecht werden, eine angemessene und adäquate Absicherung bei gleichzeitiger Umverteilung der Risiken auf alle gewährleisten.
  5. Auch für Europa benötigen wir eine Investitionsoffensive, um die Teilhabechancen für alle Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen. Hierfür braucht es einen Zukunftsfonds im EU-Haushalt vor, der öffentliche Investitionen in Staaten fördert. Es ist höchste Zeit für einen Steuerpakt, der Steuerdumping und -hinterziehung durch Internetmonopole wie Amazon und Google endgültig beendet. Die Einnahmen aus dem Ende der Steuertrickserei sowie die Einnahmen aus einer Steuer für die Digitalunternehmen sollen dann in die Investition für öffentliche Güter fließen.
  6. Europa muss zudem seine Grundfreiheiten um eine Freiheit vor sozialer Unsicherheit erweitern. Hierfür müssen in allen Mitgliedstaaten Mindesteinkommen und Mindestabsicherungen etabliert werden, die eine gesellschaftliche Teilhabe und einen echten Schutz vor Armut gewährleisten.
Porträtfoto eines Mannes.

Anton Hofreiter

Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag.