Grüne Relevanz – ein Vorschlag zur Ideenpolitik

Ein Debattenbeitrag von Dr. Reinhard Olschanski zum Grundsatzprogramm.

Porträtfoto eines Mannes.

Dr. Reinhard Olschanksi

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Stuttgart. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur.

Die Grünen stehen gut da. Umfragen sehen sie auf Platz zwei im deutschen Parteienspektrum. Bei Frauen und Jungwählern liegen sie besonders gut. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen wurden sie zu einer Art Sehnsuchtsort der Wählermigration – weg von den alten Volksparteien. Gleichzeitig bilden sie einen Gegenpol zum grassierenden Rechtspopulismus und sind die wichtigste Stimme eines weltoffenen und liberalen Geistes wider die geistig-politische Verrohung.

Ein Katalysator des grünen Erfolgs ist die neue Führung, mit der die Partei sich auch medial sehr attraktiv aufstellte. Gleichzeitig zeigt ein Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, dass die Grünen auch Wirtschaft können und das Innovationsrückgrat im Südwesten nicht etwa brechen, sondern stärken und entwickeln. Das gegenwärtige grüne Wachstum ist mehr als nur ein Produkt von Zufall, Medienhype und schwankenden Stimmungslagen. Aber wieviel mehr? Und was lässt sich über die Zukunft der Partei sagen – in einer Zeit, in der sich das Parteiensystem verflüssigt und eigentlich nichts mehr sicher und notwendig erscheint.

Tatsächlich ist nichts in Stein gemeißelt – weder der grüne Aufstieg noch der Niedergang der alten Volksparteien noch auch die Präsenz der Populisten in den Parlamenten. Wer in einer solchen Gemengelage ohne allzu gewagte Spekulationen nach vorne blicken will, sollte schauen, ob sich etwas Bestimmteres über den eigentümlichen Zwischenbereich zwischen Zufall und Notwendigkeit ausmachen lässt. Er sollte dorthin schauen, wo die realen und nicht bloß ausgedachten Möglichkeiten zu Hause sind. Also: Welche realenChancen haben die Grünen? Und was können sie tun, um wirklich gestärkt in einen neuen Zyklus der Politik einzutreten – dann, wenn das Parteiensystem wieder in einen festeren Aggregatzustand annimmt?

Die Zeit scheint reif für eine Selbstvergewisserung der grünen Idee, auch wenn solche Übungen sonst eher in Krisenzeiten fallen. Selbstvergewisserung meint das Aufmerken auf etwas, das im Tagesgeschäft weniger explizit wird, nämlich die Rahmenkonzepte des eigenen Tuns. Die wichtigste Diagnose an dieser Stelle lautet: Die grüne Partei spielt inzwischen nicht nur in Sachen politischer Relevanz auf Augenhöhe mit anderen, älteren und lange deutlich größeren „Anbietern“, sondern auch mit Blick auf den Ideenrahmen ihrer Politik. Das grüne Paradigma hat zu den anderen großen Paradigmen der Moderne, zu Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus aufgeschlossen. Dieser ideenpolitische Zugewinn soll in einem ersten Schritt rekonstruiert werden.

Im zweiten Schritt wird nach konzeptuellen und praktischen Konsequenzen gefragt. Es geht um eine grüne „Ideenpolitik“, die aus der Diagnose folgen sollte. Um die Konsequenzen zu erschließen, geht es vom Ideenhimmel zurück auf die Erde – hin zu den politisch-kulturellen Milieus und Parteien, die sich an den klassischen Paradigmen orientieren. Denn auch hier ist vieles in Bewegung, vor allem in den sich ausweitenden Übergangsbereichen zwischen schrumpfenden Kernmilieus. Entsprechend stellt sich die Frage, welche zusätzlichen Angebote die Grünen machen sollten. Welche Sprache sollten sie sprechen? Welche ideengeschichtlichen Wurzeln besser verstehen? Welche neuen Semantiken erschließen? Und welche erweiterte Selbstbeschreibung sollte sich insgesamt damit verbinden?

Diese Fragen führen auf etwas, das zum Grundsätzlichen an Grundsatzdebatten gehört. Es geht um jenes kleine und unerlässliche Mehr, das sie spannend und erfrischend machen kann. Neben der unerlässlichen Aktualisierung alter und der Aufnahme neuer Themen gilt es, auch einen Sinn für Verschiebungen in der geistig-kulturellen Gesamtwetterlage zu entwickeln – auch für die Art, auf Dinge zu blicken und Debatten zu führen. Es geht um feine, aber dennoch merkliche Verschiebungen, an denen sich nicht auch die Möglichkeit, über enge Milieus hinauszugreifen, bemisst. Es geht letztlich um Hegemoniefähigkeit.

Das ökologische Paradigma

Der Fixstern grüner Politik ist das ökologische Paradigma. Dessen Leuchtkraft ist seit 50 Jahren rapide gewachsen. Er ist zum klassischen Dreigestirn der politischen Ideen der Moderne, zu Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus hinzugetreten. Wie muss man sich diesen Zugewinn genauer vorstellen? Und was bedeutet er für die Ordnung unserer politischen Ideen?

Die alte Trias wurde im 19. Jahrhundert zum dominierenden Schema, nachdem sich politische Parteien und Bewegungen voneinander abgrenzten. Es bestimmte den politischen Blick der Öffentlichkeit – und auch den der Intellektuellen und der Akademien. Die Unterscheidung von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus wurde zu einem zuverlässigen geistigen Arbeitgeber für historische, politische, soziologische und philosophische Seminare und Fakultäten, die entlang der Einteilung forschten und lehrten. Doch inzwischen sind es vier Grundideen. Zu diesem Schluss muss jedenfalls kommen, wer die globalen Debatten aufmerksam verfolgt. Und das große Pfund der Grünen – so die Folgerung – liegt darin, dass sie die machtvolle und viele Menschen bewegende Idee verkörpern, die als letzte hinzugetreten ist, nämlich die ökologische.

Die Rede von einer solchen weiteren Grundidee dürfte inzwischen als nüchterne und vielfach geteilte Feststellung gelten. Den Beigeschmack von überbordender Ökorhetorik oder esoterischer Weltalterspekulation hat sie jedenfalls längst abgelegt. Sie handelt eben nicht von hippiesken Blütenträumen oder vom „Zeitalter des Wassermanns“, sondern von sehr praktischen Problemen in der globalisierten Welt. Sie ist nicht nur die jüngste, sondern auch eine sehr handfeste unter den politischen Großideen. Und sie hat das Zeug, das Spiel der politischen Ideen und Semantiken weithin neu zu ordnen. Das ist zumindest die These, die hier – weniger in abschließender als in hoffentlich aufschließender Perspektive – vertreten wird. Es geht um ein Aufsammeln von losen Enden der politischen Ideengeschichte. Und um eine Einladung zum Mitdenken und Mitdebattieren. Und auch um kleine Rahmenreflexion für das, was in vielen Details des grünen Programmprozess schon auf dem Weg ist.

Aber zunächst: Was geht im „objektiven Geist“ einer Gesellschaft vor sich, wenn neue politische Ideen aufkommen und als Rahmenkonzepte den Ideenhimmel stürmen? Denn die Paradigmen der Moderne sind ja nicht „immer schon“ dort oben. Sie sind keine platonischen Ideen, keine von der Welt der Menschen abgetrennte Vorbilder, keine ewigen „Idole“ des Seins. Und weil sie nicht immer schon dort oben sind, darum steigen sie auch nicht fix und fertig vom Ideenhimmel auf die Erde nieder, sondern werden von höchst weltlichen, historisch-politischen Prozessen hin und her befördert. Sie gründen in ziemlich konkreten Grunderfahrungen. Sie sind zunächst einmal Problemanzeigen und bewähren sich, indem sie die Anliegen, die sich in ihnen kundtun, langfristig und stabil artikulieren und orientieren.

Der Erstgeborene unter den politischen Ideen der Moderne, der Liberalismus, war die politische Speerspitze des Aufklärungsdenkens und eines erstarkenden Bürgertums. Das ursprüngliche Problem war die gefesselte Freiheit, die feudalen Schranken für das Gut der Freiheit, das zunächst einer selbstbewussten und immer aufmüpfigeren Gesellschaft der „Citoyens“ ans Herz wuchs, und zwar vor allem in den städtischen Inseln im Meer des Feudalismus. Das Ziel der liberalen Aufklärung war die bürgerliche Gesellschaft mitsamt ihren besonderen Zutaten – Demokratie, Autonomie, Markt und Rechtsstaatlichkeit,

Dem gegenüber war der Konservatismus ein „Zweitling“ – trotz seines gediegenen und mitunter ewigkeitsheischenden Auftretens. Auch ihn gab es nicht immer schon, sondern erst als Reaktion auf Liberalismus und Aufklärung und den Wandel hin zur bürgerlichen Gesellschaft. Und zwar einmal im Sinne der Sehnsucht nach dem Alten, dem status quo ante. Zum anderen aber auch schon die Funken einer Dialektik der Aufklärung, einer eigensinnigen Reflexion auf die Kosten des Wandels und seiner revolutionären Durchsetzungsform.

Der Sozialismus war der Dritte im antagonistischen Bunde. Er entstand als Reaktion auf die Not der aus den alten feudalen Produktionsverhältnissen freigesetzten Menschen, die sich im 19. Jahrhundert in den neuen Industriestädten sammelte. Mit der Artikulation der sozialen Frage war das klassische Dreigestirn der modernen politischen Ideen etabliert.

Lässt man die regressiven Autoritarismen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beiseite, so sollte es über 100 Jahre dauern – bis in zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts –, bis eine weitere Grundidee hinzukam, eben die ökologische. Und so wie die anderen, so entstand auch sie als besondere Problemanzeige. Der Ort ihres Hervortretens war wie bei der sozialen Frage die industrielle Moderne. Und der besondere Zeitpunkt jene Phase, in der eine folgenethische Reflexion unabweisbar wurde – eine Reflexion, die mehr enthielt als das, was die bisherigen modernen Problemanzeigen und Entwürfe geleistet hatten, indem sie die zerstörerischen Potenziale von Technik und einer umweltvergessenen, nicht nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise akzentuierte. Besonders sinnenfällig wurde sie bei der militärischen und sogenannt „friedlichen“ Nutzung der Atomkraft, aber auch beim Waldsterben oder der Vergiftung der Flüsse. Die industrielle Moderne hatte eine prekäre technologische Basis geschaffen und eine Lebensweise hervorgebracht, deren Gefahren für Mensch, Umwelt und Natur nicht länger vernachlässigt werden konnten.

Die Antworten auf die soziale Frage fußten in einer Kritik an modernen Produktionsverhältnissen. Es ging vor allem um systemisch vermittelte Ausbeutungsbeziehungen zwischen Mensch und Mensch. Die neue ökologische Problemanzeige richtete sich dagegen direkt auf die technologische Basis, mittels derer sich die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur vollzieht. Es ging um den Raubbau an Natur und die Vergiftung der Umwelt, die aus Anwendung nicht umweltschonender Technologien und Produktionsverfahren und einem insgesamt nicht nachhaltigen Leben und Wirtschaften folgten – und die nun spürbar auf die Menschen zurückschlugen. Technologie und materiell-stoffliche Abläufe von Produktion und Konsumtion wurden damit nicht länger als neutral und alternativlos hingenommen, sondern erschienen ihrerseits als etwas Kritisierbares. Und zwar nicht im Sinne eines „entweder Technik – oder keineTechnik“, das den Grünen anfänglich oft vorgehalten wurde. Und auch nicht im verzichtsethischen Sinne eines „entweder konsumieren – oder verzichten“. Sondern als etwas, von dem sehr unterschiedliche Ausprägungen möglich sind. Die ökologische Kritik forderte „grüne“ Alternativen, die im ökologischen Sinne besser und angemessener sind. Diese Problemreflexion war der eigentliche Ausgangspunkt für den Aufstieg des ökologischen Paradigmas.

Und er wurde von konkreten Erfahrungen gestützt und befördert, die immer wieder zeigten, wie wichtig und dramatisch richtig diese neue Perspektive war, etwa die Atomkatastrophen von Tschernobyl bis Fukushima. Er wurde auch vom Nachweis befördert, dass erfolgreiches Handeln möglich ist. Viele Flüsse sind wieder sauber. Und der Trend zur Ausweitung des Ozonlochs wurde mit dem weltweiten FCKW-Verbot gestoppt und umgekehrt. Das alles gibt Hoffnung, dass auch der menschengemachte Klimawandel erfolgreich bekämpft werden kann. Er ist das gegenwärtig größte ökologische Problem, dem viele Verantwortliche immer noch mit einer unverantwortlichen Ignoranz und Tatenlosigkeit gegenüberstehen.

Das Faktum des Klimawandels räumt auch mit einem verbreiteten Missverständnis über den soziokulturellen Charakter des ökologischen Paradigmas auf. Es zeigt, wie verkürzend es ist, die Hinwendung zur Technikfolgenreflexion und zu nachhaltigem Leben und Wirtschaften unter dem Generalnenner einer „postmaterialistischen“ Wende abzuhandeln. Auch wenn das ökologische Paradigma nicht mehr unmittelbar von den materiellen Notlagen her formuliert wurde, um die herum im 19. Jahrhundert die soziale Frage aufkam, so ist es deshalb doch keinesfalls etwas leichtgewichtig „Idealistisches“. Insofern es die materielle Mensch/Natur-Beziehung in den Mittelpunkt rückte und die menschliche Bearbeitung der Natur und den Menschen als Teil des Ökosystems thematisierte, ist es sogar „materialistischer“ als das soziale Paradigma. Letzteres unterschätzte die Mensch/Natur-Beziehung in ihrem Eigengewicht und fasste sie vorrangig nur in ihrer Vermittlungsdimension für die Mensch/Mensch-Beziehung. Hinzu kommen die weltweiten Folgen des Klimawandels. Millionenfache Klimaflucht macht sinnenfällig, dass es hier auch und nicht zuletzt um die unmittelbaren materiellen Interessen der Allerärmsten geht. Ökologie ist alles andere als eine Idee „bloß für die Reichen“, die sonst keine Sorgen und Nöte mehr haben.

Aber gleichzeitig ist das ökologische Paradigma auch kein Klassenparadigma mehr. Es bringt nicht so wie der frühe Liberalismus den Standpunkt eines aufstrebenden Bürgertums zum Ausdruck. Es ist auch kein konservatives Reaktionsprodukt der Feudalklasse auf die bürgerliche Revolution. Und es ist keine Klassenideologie einer Arbeiterschaft im Kampf mit einem bourgeoisen Interessenbürgertum. In einer Zeit, in der die Milieus von Klassen und Schichten immer weniger Bindekraft entfalten, eröffnet das ökologische Paradigma eine andere Perspektive. Nachhaltiges Leben und Wirtschaften ist ein Angebot an alle. Es steht für wichtige und weithin verallgemeinerbare Elemente eines guten Lebens, die es auch in einer verallgemeinernden Weise formulieren will: Gute Luft, gesunde Nahrung, nachhaltige Entwicklung – das soll für alle zugänglich sein. Und es verkennt auch nicht, dass es gegenläufige Interessen gibt, die von einer nicht nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise profitieren. Und es ist auch nicht blind dafür, dass ein nachhaltiges Wirtschaften, das die Folgekosten seines Tuns mit einpreist, zumindest kurz- und mittelfristig mehr kosten wird als ein Wirtschaften nach der Raubbaumethode. Hier liegen diffizile Aufgaben und gewichtige Konfliktpotenziale, denen ökologische Politik sich stellen muss.

Die ökologische Idee bringt keinen engen Klassenstandpunkt zum Ausdruck. Sie greift weit aus und nimmt eine Dimension des Globalen in den Blick, die über das hinausgeht, was bereits im liberalen und sozialen Paradigma Thema war. Die globalistische Idee des Liberalismus war und ist der freie Welthandel, den er nicht erst heute, sondern bereits im 19. Jahrhundert mächtig vorantrieb. Dem setzte die Arbeiterbewegung die internationale Solidarität der Arbeitenden entgegen – zumindest dort, wo sie nicht dem Narkotikum des Nationalismus verfiel. Die Problemanzeige des ökologischen Paradigmas, die von den Folgen der Mensch/Natur-Auseinandersetzung ihren Ausgang nimmt, bezieht sich von vornherein auf etwas, das an Ländergrenzen nicht halt macht – weder als radioaktiver Fallout noch als Treibhausgasemission. Die Erderhitzung ist heute neben der wirtschaftlichen Globalisierung der globale Vorgang par excellence. Sie ist etwas, das sich alleine mit nationalen oder gar nationalpopulistischen Mitteln nicht bekämpfen lässt. Und es ist erhellend, mit welcher Vehemenz gerade Nationalpopulisten den menschengemachten Klimawandel leugnen. Denn das Eingeständnis einer menschlichen Verursachung würde ja unmittelbar auf ein gemeinsames globales Interesse und auf die Notwendigkeit einer über die engen Grenzen von Nationalstaaten hinausweisenden Kooperation führen. Weil das so ist, darum steckt der Populismus beim Klimawandel den Kopf besonders tief in den Sand.

Dem freien Welthandel und die internationale Solidarität der Arbeitenden standen und stehen protektionistische oder nationalistische Ideen und Interessen gegenüber. Bei der Erderhitzung ist es etwas anders. Sie ist weder eine Idee noch ein Interesse, sondern eine unbeabsichtigte Nebenfolge der menschlichen Naturauseinandersetzung. Sie schlägt auch nicht in Form einer naturähnlichen Verselbständigung sozialer Handlungssysteme – etwa als krisenhafter Kapitalprozess – auf die menschlichen Urheber zurück, sondern als Natur selbst, als etwas, das naturgesetzlich folgt, wenn zu viel CO2 in die Atmosphäre gelangt. Der scheinbar so luftige Ökologismus erweist sich auch an dieser Stelle um eine Spur „materialistischer“ als seine Gegenspieler. Er zeigt, dass menschliches Handeln nicht bloß soziale, sondern auch übergreifende natürliche Selbstläufe hervorzurufen vermag. Jean-Paul Sartre beschrieb solche Vorgänge schon früh als „Kontrafinalitäten“, als Folgen menschlicher Natureingriffe, die sozusagen „feindlich“ gegen die Menschen ausschlagen, ohne doch von einem Feind auszugehen. Denn die Natur und ihre Gesetze sind ja keine personalen Widersacher. Dennoch wird gerade hier eine besondere Form der Solidarität absehbar. Der Kampf gegen Kontrafinalitäten meint nicht mehr vorrangig einen Kampf, in dem soziale Gruppen sich nach dem Modell eines „Wir gegen Sie“ gegeneinander solidarisieren, sondern einen Kampf „Wir gegen Es“ – gegen die unpersönliche Instanz eines naturhaften Geschehens, wie auch immer es von Menschen in Gang gesetzt wurde. Dem ökologischen Ansatz ist eine Tendenz des Zusammenstehens gegen Katastrophen, Kollateralschäden und Havarien, die sich über Umwelt und Natur vermitteln, eingeschrieben. Er gründet nicht mehr in den Interessen einer besonderen sozialen Gruppe und liefert eine Basis für eine neuartige globale Solidarität. Die ökologische Problemanzeige lässt in der Gefahr auch das Rettende wachsen. Sie ist eine Gegenmobilisierung gegen die über Natur vermittelnden Kontrafinalitäten. Damit wird sie zur sozialen Ressource.

Das neue Paradigma setzte sich im Verlauf von nur anderthalb Generationen als neuer und wichtiger Orientierungsrahmen durch und erfasste die Köpfe und Herzen von Millionen Menschen. Es ist eine der zentralen Sinnorientierungen und praktischen Korrektive in der heutigen Welt. Und es wurde zum Rahmen, in dem er sich ausdifferenzierte. Zum Beispiel auch in einem Kampf der Schulen, der im angelsächsischen Raum zwischen „ecologism“ und „environmentalism“ ausgetragen wird, also zwischen einer Orientierung, die Natur an sich und jenseits des Menschen schützen will, und einer Orientierung, der es primär um den Schutz einer vom und für den Menschen gedachten Umwelt geht. Auch solche inneren Differenzierungen in der Idee des Ökologischen gehören zu den Zeichen ihrer äußeren Konsolidierung, die heute sichtbar werden.

Vor allem aber differenzierte sich eine praktische Politik aus. Und das ist ein die Gesellschaft durchdringender und weithin prägender Vorgang. Er vollzieht sich in täglichen Medienberichten, in unzähligen Posts und Tweets in den sozialen Netzwerken. Er realisiert sich in wahren Papierfluten, in politischen Programmen, Anträgen und Petitionen, in unzähligen kleinen und großen Wahlkämpfen auf kommunaler, Landes-, Bundes- und Europaebene, in vielen mühsamen Jahren grün-ökologischer Oppositionspolitik und in noch stärker fordernden Jahren des Regierens, in nationalen und internationalen Verträgen, in Gesetzen, Erlassen und Ausführungsbestimmungen, in Gutachten und einer Rechtsprechung auf allen Ebenen, in Schul- und Lehrwerken, in einer Regalwände füllenden wissenschaftlichen Literatur.

Der Umfang und die Bedeutung des ökologischen Paradigmas lassen sich auch an den Bereichen der politisch-institutionellen Bearbeitung ablesen, die inzwischen sehr direkt und teilweise sehr weitgehend von ihm bestimmt sind: Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit, Ernährung, Verbraucherschutz, Landwirtschaft, Forschung und Wissenschaft, Gesundheit, Bauen und Wohnen, Verkehr, Wirtschaft, Energie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die genannten Themenfelder betreffen neun von vierzehn gegenwärtigen Bundesministerien unmittelbar. Und die anderen sind zumindest mittelbar und in Teilbereichen betroffen. Selbst wenn die Grünen ausschließlich das Ökothema bearbeiteten, wären sie längst nicht mehr jene Ein-Punkt-Partei von Öko-Idealisten, als die man sie lange etikettierte. Ihr Hauptthema alleine beschert ihnen heute ein politisches Portefeuille, das sich in Breite und Dringlichkeit mit den Kernangeboten der Konkurrenz problemlos messen kann – wo es diese nicht deutlich übertrifft.

Und längst schon hat sich die folgenethische ökologische Reflexion auch in alternativen Techniken, Standards und Verfahren niedergeschlagen und in den Erneuerbaren Energien einen weltweiten Siegeszug angetreten. Bei der Energiewende geht es um nichts Geringeres als den Umbau eines basalen Sektors der Ökonomie. Doch das neue ökologische Paradigma krempelt die ganze moderne Wirtschaft und Gesellschaft um. Deren umfassende ökologische Transformation steht auf der Tagesordnung. Auch das zeigt: Die ökologische Idee ist inzwischen eine Hauptidee unserer Moderne und längst nicht mehr ein nur marginales Beiprodukt.

Die Grünen waren nicht die ersten, die über Ökologie nachdachten. Das hatten schon andere vor ihnen getan – bis zurück in die antike Philosophie und Geschichtsschreibung. Aber sie waren diejenigen, mit denen die ökologische Reflexion paradigmatisch wurde – und vor allem auch zu einer Politik umfassend orientierenden und organisierenden Idee. In der politischen Praxis der Grünen wirkt das nach innen und nach außen. Ökologie ist die Klammer, die die Partei auch in den Zeiten harter Flügelkämpfe zusammen gehalten hat. Und sie ist das wichtigste Scharnier zu einer engeren und weiteren Anhängerschaft, die ihre Anliegen eines nachhaltigeren und ökologischeren Lebens und Wirtschaftens bei ihnen am besten aufgehoben sieht. Wäre Politik eine Ware – was sie nicht sein sollte –, so könnte man von einem intakten, innovativen und höchst attraktiven grünen „Markenkern“ sprechen.

Die Grünen tun deshalb gut daran, weiterhin mit aller Kraft ihr Menschheitsthema Ökologie und nachhaltiges Leben und Wirtschaften ins Zentrum zu stellen. Das Gute noch besser zu machen – in praktischer Politik, programmatischer Aufstellung und theoretischer Durchdringung –, das ist das Erste und Wichtigste. Und es ist auch die erste Konsequenz der ideenpolitischen Reflexion. Ihre starke ökologische Klammer gibt den Grünen innere Stabilität und Erkennbarkeit. Praktisch geht es um die konsequente Weiterentwicklung dieses Markenkerns auf allen Ebenen. Es gilt, die Themen von A wie Artensterben bis Z wie Zertifikatehandel bis in alle Details auszubuchstabieren. Das ist das grüne „Heimspiel“.

Doch das grüne Kernthema ist auch ein Fundament, um thematisch-inhaltlich deutlich weiter auszugreifen. Längst schon haben die Grünen den Anspruch formuliert, politischer „Vollsortimenter“ zu sein und die ganze Palette der politischen Themen für einen breiten Ausschnitt der Bevölkerung abzudecken. Und sie tun es auch schon – etwa als führende Regierungskraft in Baden-Württemberg. Der Anspruch und seine tatsächliche Einlösung zeigen ein gestärktes grünes Selbstbewusstsein. Auf dessen Grundlage sollten die Grünen auch keine Angst haben, offen und neugierig über den Tellerrand hinaus zu blicken. Ihr originärer Punkt ist längst so fest etabliert, dass ihnen dabei keine geistige Selbstauflösung droht. Doch was ist hier näher zu bedenken? Was sollten sie tun, wenn der ökologische Tellerrand nicht das Ende ihres politischen Horizonts definiert?

Öffnung des Horizonts

Die Grünen haben heute die Chance, für breite Teile der Gesellschaft zu sprechen. Sie wissen das. Klugerweise haben sie sich nicht auf das Glatteis eines Volksparteiprojekts locken lassen. Nicht nur, weil die Trauben hier hoch hängen, sondern auch aus einem politischen Grund – weil dieses Konzept bei Union und SPD nämlich zu gehöriger Unschärfe, hoher Lobbyaffinität, politischem Synkretismus und jeder Menge fauler und formelhafter Kompromisse führte. Und aus einem sozialen Grund – weil das Konzept der Volkspartei von relativ homogenen tragenden Milieus ausgeht, die in unserer Gesellschaft so nur noch begrenzt anzutreffen sind. Der Ausdruck Volkspartei steht heute auch nicht mehr für strahlende Größe und vertrauenserweckende Allzuständigkeit, sondern eher für Verschwommenheit und Politikverdrossenheit oder sogar Demokratiemüdigkeit. So, wie die Volksparteien sich gegenwärtig präsentieren, liefern sie jedenfalls keine verlockenden Modelle der Parteientwicklung mehr. Aber was dann? Ist eine Öffnung und Erweiterung des Horizonts für die Grünen nicht zwingend nötig, wenn sie wirklich auf Augenhöhe mit jenen Parteien spielen möchten, die den Volksparteititel für sich lange stolz in Anspruch nahmen? Und wenn ja, wie sollte das dann vonstatten gehen? Welche Alternativen zum Volksparteikonzept könnten sie entwickeln? Wie könnte ein alternativer Weg der Grünen zu mehr Relevanz aussehen?

Eine wichtige Anregung in dieser Debatte, der ich mich weitgehend anschließen möchte, lieferte Reinhard Bütikofer. Er empfiehlt den Grünen, sich selbst im Dreiklang einer Orientierungs-, Bewegungs- und Dialogpartei zu verstehen. Und er meint damit einmal, an der eigenen Herkunft aus den sozialen Bewegungen festzuhalten und sich nicht in den institutionellen Prozessen zu verlieren, denen eine verantwortliche politische Partei sich gleichwohl nicht entziehen kann. Es heißt aber auch, einen umfassenderen Anspruch zu entwickeln und „die Frage nach der Gesamtorientierung, nach einem neuen, zukunftsfähigen Mainstream selbstbewusst zu stellen.“ Das ist tatsächlich der Anspruch, um den es heute geht. Ihn zu erheben ist nicht besonders schwer, ihm gerecht zu werden dagegen ziemlich. Deshalb braucht es hier nähere Bestimmungen. Orientierungspartei zu sein erfordert nach Bütikofer, „grundlegende, zentrale Reformprojekte zu identifizieren und verlässlich dafür zu streiten, egal in welcher politischen Konstellation.“ Das heißt, eine Orientierungspartei erkennt und definiert mit gehöriger Klarheit die für die Entwicklung der Gesellschaft vorrangigen Reformprojekte. Und sie arbeitet mit strategischem Weitblick an deren Realisierung. Und sie weiß auch, dass sie sich die politischen Konstellationen, in denen sie es tut, nicht einfach aussuchen kann.

Ein weiterer wichtiger Punkt liegt darin, dass der Anspruch, Orientierungspartei zu sein, einen besonderen einbeziehenden Politikstil beinhaltet. „Hegemoniefähigkeit“ darf nicht mit „Besserwisserei“ verwechselt werden. Stattdessen gilt es, „die bewusste Schaffung von Anschlussfähigkeit eigener Perspektiven für andere zu suchen.“ Dieser Satz gehört dick unterstrichen. Denn das Ziel von politischer Kommunikation in der Demokratie liegt ja nicht bloß darin, zu sagen, was man für richtig hält. Ein solches reduziertes Verständnis – das gar nicht so selten anzutreffen ist – verwechselt demokratische Politik mit expressiver Selbstästhetik. Stattdessen gilt es, die wesentlichen Gehalte auch relevant zu machen und sie so zum Ausdruck zu bringen, dass sie nachvollziehbar und überzeugend sind und möglichst eng anknüpfen an das, was die Gesprächspartner umtreibt. Demokratische Politik ist tatsächlich mehr als nur Selbstperformanz. Sie meint immer auch Kenntnis und Respekt für die Perspektive der Anderen. Auf dieser Grundlage ist sie eine Suche nach Schnittmengen zwischen Perspektiven, die produktiv wirksam gemacht werden können. Genau hier liegt eine Hauptforderung an die Entwicklung einer hegemoniefähigen grünen Semantik.

Und natürlich geht es nicht darum, eine solche Semantik dann mit Sprachautomaten zur Aufführung zu bringen. Es geht immer auch um Personen, die Gehalte vertrauenswürdig vertreten: „Zur Orientierungspartei gehört es auch – das können wir ganz sicher von Kretschmann lernen – unser Grünes Orientierungsangebot durch dafür glaubwürdige Personen zu repräsentieren.“ Bütikofer akzentuiert den Aspekt der Anschlussfähigkeit noch eigens mit der Forderung, dass die grüne Partei auch Dialogpartei sein müsse. Sie steht für besondere Formen der Beteiligung und des Dialogs mit Bürgerinnen, etwa in Form einer „Politik des Gehörtwerdens“. Aber es geht auch um den Dialog zwischen den Akteuren auf der politischen Bühne, und auch darum, „revolutionäre Geduld“ zu üben und Kompromisse nicht zu verachten. Denn die sind nichts Verwerfliches, sondern der „Normalfall des politischen Fortschrittes in einer Demokratie“. Eine Dialogpartei braucht deshalb nicht nur einen Blick für das, was fehlt und nicht vollkommen ist, sondern auch dafür, „wo das Glas halb voll ist“. Zwar sollte man nicht jeden Kompromiss gleich zum Sieg erklären, aber doch sehen, wo Kompromisse gut sind und in die richtige Richtung führen.

Wie sollte nun aber die Kernforderung an Hegemoniefähigkeit, nämlich die „bewusste Schaffung von Anschlussfähigkeit eigener Perspektiven für andere“, von den Grünen näher erfüllt werden? Wie genau kann das aussehen und vonstatten gehen? Eine Antwort muss sich natürlich an den praktischen Problemen auf der politischen Agenda und an den Hauptprojekten, mit denen sie gelöst werden sollen, bewähren. Aber die Antwort ist nicht nur praktisch. Es geht auch um den allgemeineren ideellen Rahmen, der parallel und ergänzend zur Alltagspolitik die anstehenden Aufgaben reflektiert und die politische Praxis orientiert und auch antreibt und motiviert. Es geht auch um die kulturell-geistige Hegemonie. Diese wird sich zwar in aller Regel über konkrete Projekte, Aufgaben und handelnde Personen entwickeln und festigen, sie geht aber nicht darin nicht auf, sondern prägt den objektiven Geist einer Gesellschaft umfassender. Es geht auch um den Werterahmen einer Gesellschaft und das Gewicht, dass etwa der Anspruch auf eine ökologisch nachhaltigere Lebensweise darin hat. Es geht um das Wechselspiel, in dem konkrete Projekte, Politiken und Personen bestimmte Werte und Werthorizonte bestärken und befestigen, die dann aus dem Ideen- und Wertehimmel wieder auf die wirkliche Welt zurück wirken, zum Beispiel auch in der Zustimmung zu den Projekten und Protagonisten einer bestimmten Politik. Erst wenn ökologische Nachhaltigkeit im sozialen Wert- und Ideengefüge sehr hoch rangiert, wird sich auch eine ökologisch nachhaltige Reformpolitik auf breiter Front durchsetzen lassen. Aber sie würde andererseits niemals so hoch rangieren, wenn sie nicht über konkrete Problemanzeigen, gesellschaftliche Debatten und kluge und vertrauenswürdige Politik dorthin befördert worden wäre.

Tatsächlich ist der grüne Erfolg mit dem Aufstieg der ökologischen Paradigmas in einer engen Wechselwirkung verbunden. Hier wurde ein Ideen- und Wertehorizont für ein hegemoniales Projekt gelegt. Aber er alleine reicht noch nicht aus, um gesellschaftliche Anschlussfähigkeit in der nötigen Breite herzustellen. Denn wer Meister werden will, darf nicht nur seine Heimspiele gewinnen. Zur Hegemonie gehört auch Auswärtsstärke. Er braucht auch Zustimmung bei einem Publikum, dass zunächst andere Teams präferiert. Anschussfähigkeit meint entsprechend auch einen geistig-kulturellen Brückenbau zu sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus.

Ein wichtiger Schritt bei einem solchen Brückenbau wäre ein eigenständiger und bewussterer und vor allem auch selbstbewussterer Umgang der Grünen mit Gehalten und Semantiken, die zunächst in anderen Traditionslinien der politischen Moderne geprägt wurden und die im Alltagsdenken vieler Menschen nach wie vor feste Wurzeln haben. Ein Bezug auf solche Gehalte sollte die eigenen Gehalte nicht etwa relativieren. Und er sollte auch nicht Copy und Paste und politische „Kaperfahrt“ sein. Die Aufgabe sollte vielmehr als politisch-semantische Herausforderung in einem ziemlich umfassenden und schöpferischen Sinne verstanden werden. Robert Habeck hat in seinem Buch Wer wir sein könntenanschaulich gezeigt, wie die Schaffung und Reformulierung von Sprachen zugleich immer auch die Schaffung von Wirklichkeiten sowie von Instrumenten zu deren Bearbeitung sein kann. Wenn die Grünen A sagen und ihren Anspruch auf Eigenständigkeit und auf erweiterte Relevanz wirklich ernst nehmen, dann müssen sie auch B sagen und sich eben auch an die semantische Arbeit einer Neuerschaffung oder zeitgemäßen Reformulierung von Sprachen und Konzepten machen, die in der Gegenwart eine konstruktive Rolle spielen können. Und zwar auch dann, wenn sie zuvor eher in den anderen, den liberalen, sozialen und wertkonservativen Traditionen beheimatet schienen. Die Grünen sind stark und gefestigt genug, um in einem solchen erweiterten Rahmen über Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Bewahrung historischer und wertmäßiger Bestände nachzudenken und sich auf die Ideendialektik einzulassen, die daraus resultiert. Sie müssen es auf der Grundlage ihrer gefestigten Eigenständigkeit nur wollen und tatsächlich tun.

Die überkommenen Paradigmen der Moderne standen ursprünglich in Spannungsbezügen, die einen ziemlich antagonistischen Charakter hatten. Aber sie waren füreinander nicht schlechthin Fremde und Andere, zumal sie ja alle, wenn auch in je besonderer Weise, Kinder der Moderne sind. Und längst sind auch Schnittmengen und wechselseitige Ergänzungen zwischen ihnen fest etabliert. So gibt es sozialliberale, liberal-konservative oder konservativ-soziale Denkschulen und Politiken. Und dort, wo dennoch ein Purismus der Schulen gepredigt wird, herrscht akute Dogmatismusgefahr. Wie sehr man in die Irre gehen kann, wenn man immer noch – oder wieder neu – auf der Reinheit und Unvermischtheit der Paradigmen besteht, zeigt sich nicht zuletzt an den Folgekosten, die heute von einigen Gesellschaften für einen marktradikalen Liberalismus zu zahlen sind, der seine Kreise ohne alle soziale, ökologische oder wertkonservative Rücksichtnahme ziehen will.

Die meisten demokratischen Parteien verbinden heute soziale, liberale, konservative und auch ökologische Ideen und Inspirationen. Die Frage lautet nur: Wie tun sie das? Handelt es sich um Synkretismus und Eklektizismus? Handelt es sich um PR-Spiele? Geht es um Opportunismus? Oder um Vermischungen, die aus zufälligen Kräfteverhältnissen resultieren? Oder handelt es sich um kluge und kreative Verbindungen, die auf drängende gesellschaftliche Probleme reagieren? Und die vielleicht auch mehr Klarheit über die eigenen Wurzeln ermöglichen – Wurzeln, die bei den Grünen breiter und älter sind als das Ökologische an der grünen Partei!

Welche politisch-semantische Arbeit wäre also sinnvoll für die Grünen? Tatsächlich sind Überschriften hier nicht schwer zu finden. Sie könnten sich aus: „Öko plus X“ zusammensetzen. Doch wenn die Grünen nach sinnvollen und produktiven Verbindungen des ökologischen Paradigmas mit zukunftsfähigen Gehalten und Problemanzeigen aus Ideen suchen, die zunächst in liberalen, sozialen und wertkonservativen Semantiken formuliert wurden, dann tun sie das in einem besonderen zeitgeschichtlichen Kontext. Sie tun es nicht mehr aus einer untergründigen verspürten Schwäche und einem Gefühl grünen „Ungenügens“ – also in der Art, wie man sich in frühen Jahren gelegentlich das Etikett „ökosozial“ oder „ökoliberal“ anheftete, weil man glaubte, noch einer zusätzlichen Gehhilfe zu bedürfen. Eine solche, mehr äußerliche Art der Ideenverbindung ist heute bei politischen Mitbewerbern anzutreffen, etwa bei der FDP oder der CSU, die ihr „X“ nicht mehr ganz ohne ein „plus Öko“ bewerben wollen. Die Grünen sollten über solche vordergründigen Versuche hinaus sein.

Das macht eine Antwort auf die Frage nach relevanten Schnittmengen und Verbindungen zwischen den Semantiken für die Grünen allerdings nicht leichter. Tatsächlich ist der Antwortversuch, der hier vorgelegt wird, auch nur ein anfänglicher. Er expliziert eher die Forschungsfrage und liefert allenfalls erste Antworten. Vielleicht liegt der Nutzen auch nur darin liegt, eine nicht ganz unwichtige Frage überhaupt aufgeworfen zu haben. Es geht um eine Groborientierung für eine Debatte, und nicht schon um deren Ergebnis. Vielleicht hilft der Versuch, den Horizont zu öffnen und ihn offen zu halten für weitere Antwortversuche.

Der zweite Markenkern

Ein guter Ausgangspunkt, um die Fäden aufzunehmen, ist die jüngere politische Geschichte, und vor allem ein Blick auf die „Verkörperungen“ der anderen politischen Paradigmen – also auf die liberalen, sozialen und konservativen Kräfte in der Politik. Für die Grünen sind sie gleichzeitig Partner und Gegner, manchmal Verbündete, aber zumeist auch Konkurrenten im politischen Wettbewerb. Entsprechend wären neue und zusätzliche Semantiken sowohl Sprachen des Wettbewerbs wie der Kooperation. Sie reflektieren beides.

Am einfachsten liegen die Dinge dort, wo es zwar einiges an Negativemotionen gibt, der Wähleraustausch aber relativ überschaubar bleibt, also im Verhältnis zwischen den Grünen und der FDP. Die FDP ist der Traditionsvertreter des liberalen Paradigmas in der bundesdeutschen Parteienlandschaft. Allerdings ist dieses Paradigma nicht nur älter als die FDP und die Bundesrepublik, sondern auch in sich vielfach differenziert. Es besteht aus Teilparadigmen, die auch je für sich bestimmter gegliedert sind, so dass man den politischen Liberalismus, ebenso wie die anderen Paradigmen, fragen kann: Wer seid Ihr? Und wenn ja, wie viele?

In der Frühzeit der Republik war die FDP auch ein Zufluchtsort für Nationalisten, die nach der NS-Zeit in dieser relativ kleinen Partei politischen Unterschlupf suchten und ziemlich leicht Einfluss ausüben konnten. Der stolze Ritterkreuzträger Erich Mende repräsentierte die nationalliberale Ausrichtung. Sie wurde in den 1960er Jahren, im Vorfeld der sozialliberalen Koalition, zurückgedrängt, nicht zuletzt von den sogenannten „Jungtürken“ unter Walter Scheel, die im FDP-Kontext eine eher mittige Position einnahmen. In dieser Blütezeit wurde die FDP zu einem Ort der lebendigen Debatte und eines bewussten Aufgreifens auf die sozial- und bürgerrechtsliberale Traditionslinie des Linksliberalismus. Also genau jener Linie, die dann mit dem Sieg des marktradikalen Liberalismus unter Otto Graf Lambsdorff Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre wieder zurück gedrängt wurde. Die FDP trennte sich von dieser Entwicklungslinie des Liberalismus weitgehend ab und marginalisierte deren innerparteiliche Vertreter. Darunter leidet sie noch heute, zumal auch der Marktradikalismus spätestens mit der Finanzkrise 2008 in eine tiefe Krise geriet. Zusätzlich marginalisierte die FDP sich zuletzt auch noch mit einer koalitionspolitischen Verweigerungshaltung, wie sie bei den Jamaicaverhandlungen sichtbar wurde.

Der parteipolitische Gewinner der Lambsdorff-Wende war nicht nur der Lambsdorff-Flügel in der FDP oder die Kohlsche Union, sondern vor allem die Grünen! Zumal die Wende just in die Phase ihrer Gründung fiel. Die Jungdemokraten, die damalige Jugendorganisation der FDP, wendete sich von ihrem bisherigen parlamentarischen Bezugspartner ab und orientierte sich auf die neue Partei. Bekannte Vertreter dieser Neuorientierung waren die spätere grüne Parteivorsitzende Claudia Roth oder auch Klaus-Peter Murawski, ein versierter Organisator politischer Macht, der lange die Stuttgarter Staatskanzlei leitete.

Aber nicht nur einzelne Personen und Verbandsstrukturen aus dem FDP-Spektrum stießen zu den Grünen, sondern auch ein umfassender liberaler und radikaldemokratischer Zeitgeist. Er wurde getragen von Menschen, die sich selbst nicht immer das Etikett „liberal“ umgehängt hätten, es in ihren Anliegen aber ganz oder zumindest teilweise waren: Bürger- und Menschenrechtsaktivisten oder Aktive aus der Frauen-, Lesben- und Schwulen- und Anti-Rassismus-Bewegung - eine bunte Regenbogenkoalition versammelte sich unter dem Dach der Grünen und machte sie zur Partei einer tatsächlich epochalen „Fundamentalliberalisierung“, jener geistig-kulturellen Entwicklung, die in den wilden 1960er Jahren eingesetzt hatte und die auf breiter Front etwas erschloss, das man auf Heideggerdeutsch eine neue „Lichtung des Seins“ nennen könnte. Denn die weltoffene und liberale Lebensweise, die heute das Ideal so vieler Menschen in aller Welt ist, hat die Gegenwart über diese Umbrüche erreicht. Statt die Basis für eine Erneuerung der Stammpartei des Liberalismus in der Bundesrepublik zu sein, wurde sie zu einem zusätzlichen politischen Fundament der Grünen. Und auch wenn die Grünen nicht als „die“ liberale Partei im Parteienspektrum gelten – eine Rolle, die Olaf Scholz ihnen einmal mit einer gewissen Chuzpe antragen wollte –, sind sie doch die legitimen Erben des deutschen Linksliberalismus und dessen Erneuerer. Die Grande Dame des bundesdeutschen Liberalismus, die 2002 aus der FDP ausgetretene Hildegard Hamm-Brücher, brachte das in einem Lebensrückblick auf den Punkt, als sie unumwunden feststellte, „dass die Grünen eigentlich das Freiheitserbe des politischen Liberalismus angetreten haben“.

Angesichts der Rolle, die die liberale Bürgerrechts-, Demokratie- und Gesellschaftspolitik bei den Grünen spielt, kann man hier von einem zweiten Markenkern sprechen, der sie nicht nur mit jenem besonderen Geist der Weltoffenheit verbindet, der im letzten halben Jahrhundert seinen Siegeszug erlebte, sondern umfassender noch mit dem der Aufklärung und den historischen Freiheits- und Demokratiebewegungen der Moderne insgesamt. Hier liegt das zweite große Pfund, mit dem sie heute und in Zukunft wuchern können. Die Grünen sind die politische Formation, die diesen Geist heute politisch verkörpert und lebendig weiter trägt – und nicht nur im Sinn erbaulicher Sonntagsreden. Diesen gewichtigen Anteil am liberalen Paradigma sollten sie als besondere grüne Traditionslinie deutlich prägnanter herausstellen.

Vor diesem Hintergrund wird aber auch klar, dass die Rivalität der Grünen mit der FDP nicht bloß in einem Freudschen „Narzissmus der kleinen Differenzen“ gründet, dem das Naheliegende ja besonders fremd erscheint, sondern in einem grundsätzlicheren Unterschied, der dem liberalen Paradigma selbst eingeschrieben ist, nämlich dem zwischen Markt- und politischem Bürgertum. Grüner Liberalismus und der Anspruch auf Selbstbestimmung meinen keinen Klientelismus für die Einzelkämpfer am Markt, sondern verbinden sich in citoyenhafter Weise mit Ansprüchen auf Verallgemeinerbarkeit. Hier zeigt sich auch ein den Grünen tief eingeschriebener „Kantianismus“, nämlich der Anspruch, nach Maximen zu handeln, die stets auch Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnten. Dieser Anspruch wird bereits beim ökologischen Paradigma deutlich, das ja die Sorge um eine allen Menschen und auch den zukünftigen Generationen gemeinsame Umwelt und Natur in den Mittelpunkt rückt. In entsprechender Weise sollen auch gesellschaftspolitische Lösungen verallgemeinerbar sein – akzeptabel für alle oder zumindest für möglichst viele. Sie sollen inklusiv sein und auch den am meisten benachteiligten Mitglieder der Gesellschaft zugutekommen. Wer sich diesen Grundanspruch vor Augen führt, sieht schnell, wie wenig der Versuch, eine am Citoyenideal orientierte „grüne Bürgerlichkeit“ als bloß ökobourgeoisen Lifestyle zu etikettieren, mit dem zu tun hat, was die große Mehrheit der Grünen und breite Teile ihrer Anhängerschaft tatsächlich umtreibt. Grüner Individualismus meint nicht Blindheit fürs Allgemeine, sondern Selbstbestimmung in einer verallgemeinerungsfähigen und dezidiert prosozialen Perspektive.

Dass die Grünen in dieser Perspektive Erbe einer wichtigen Strömung des Liberalismus sind, wurde auch in drei Jahren Flüchtlingsdebatte deutlich. Während andere mit dem Populismus liebäugelten und dessen Sprachverschärfung teilweise mitmachten – und es immer noch tun –, blieben die Grünen ihren liberalen Grundüberzeugungen treu. Nun können sie die Früchte dieser Standhaftigkeit ernten. Sie werden immer mehr zum Sprecher eines „backlashs“ gegen den „backlash“, zum Repräsentanten einer breiten demokratischen Mehrheit, die die Hassrhetorik und den regressiven Geist des Populismus ablehnt und ihm sichtbar etwas entgegensetzt. Gerade hier ist der grüne Liberalismus brennend aktuell. Er kann hegemonial werden in einer Situation, in der sich der Gegensatz liberal/illiberal zu einem Leitgegensatz in den westlichen Demokratien entwickelt. Möglicherweise wird er für die politische Grundorientierung der Gesellschaft wichtiger werden als die alte links/rechts-Unterscheidung. Indem die Grünen den klarsten und sichtbarsten politischen Gegenakzent zum grassierenden Populismus und seiner illiberalen Ideologie setzen, werden sie zum eigentlichen Sprecher eines breiten, über den traditionellen Liberalismus weit hinausreichenden „liberalen“ Lagers.

Allerdings gibt es noch einen weiteren Aspekt grün-liberaler Relevanz, der ebenfalls nicht unter den Tisch fallen sollte. Er betrifft den Wirtschaftsliberalismus, der ja stets ein gewichtiger Teil des liberalen Gesamtparadigmas war – und zwar nicht bloß im Sinne des Marktradikalismus oder eines marktradikal inspirierten Neoliberalismus. Die Grünen propagieren kein Entfesselungsspiel, in dem ökologische und soziale Leitplanken als bloße Markthindernisse gelten. Es geht ihnen um eine gute Marktordnung, die es ermöglicht, die immensen Marktkräfte, von denen übrigens auch Karl Marx eine sehr klare Vorstellung hatte, konstruktiv und nicht destruktiv wirken. Es gilt Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Marktkräfte auf die Entwicklung und den Einsatz ökologischer Technologien und Produkte orientieren, statt darauf, die ökologischen Folgekosten zu externalisieren. Denn das ist die Folge eines Marktradikalismus, der mit dem radikalen Abbau von Regularien immer auch darauf zielt, soziale und ökologische Folgekosten aus den Entstehungskosten eines Produkts herausrechnen zu können. Für sich alleine geht der unregulierte Markt über Leichen. Erst die kluge Regulierung macht ihn zu einem produktiven Instrument. Deswegen steht grüne Politik nicht für Marktradikalismus, sondern für kluge Marktordnung. Ökoliberal meint in dieser Hinsicht durchaus auch ordoliberal, wenn auch nicht in der Schmalspurvariante.

Wenn die Grünen nach mehr Relevanz streben, dann müssen sie auch positiv zeigen, wie eine stark in den freien Welthandel integrierte Wirtschaft wie die der Bundesrepublik strategisch erfolgreich bleiben kann. Und das gilt umso mehr, als wir in einer Zeit leben, in der ein US-Präsident Trump mit Protektionismus, Strafzöllen und Handelsschranken droht. Bloße Kritik an einzelnen Problempunkten in Freihandelsabkommen reicht hier nicht mehr aus. Die Grünen müssen den freien Welthandel aktiv verteidigen, ohne von ihrem Anliegen, ihn fairer zu machen, abzulassen. Sie müssen beides tun. Sie werden die Themen des klassischen Wirtschaftsliberalismus auch im Sinne einer Sicherung und Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutschland aufgreifen und für sich und die Gesellschaft definieren müssen – und zwar ebenfalls nicht nur als Korrektiv für das Handeln anderer stärkerer Partner, sondern zunehmend als „Koch“ und Hauptakteur.

Das gleiche gilt für den Bereich der technischen Innovationen, die wesentlich für den High-Tech-Standort Deutschland sind. Besondere Stärken wachsen den Grünen dabei aus ihrer technikreflexiven Grundhaltung zu, die ja im Fokus ihres ökologischen Grundansatzes steht. Mit innovativer grüner Technik lassen sich schwarze Zahlen schreiben. Es geht längst um das „und“ zwischen Ökonomie und Ökologie, und nicht mehr um das „entweder-oder“, mit dem strukturkonservative Kräfte sich der ökologischen Transformation immer noch widersetzen – mit der Gefahr, dass die Wirtschaftsgeschichte sie dafür so hart bestraft wie einige Unternehmen aus dem alten Energieoligopol.

Die ökologische Transformation der weltmarktorientierten Ökonomie der Bundesrepublik ist eines der großen Zukunftsthemen der Grünen. Sie sind die politische Kraft der Technikfolgenreflexion – das steht in ihrer Geburtsurkunde. Gleichzeitig müssen sie auch auf ganzer Breite Kraft einer intelligenten und folgenreflexiven Innovation sein, zum Beispiel bei der Digitalisierung, bei der Künstlichen Intelligenz oder beim autonomen Fahren. Auch das beinhaltet mehr als die Rolle eines bloß ökologischen Korrektivs.

Der grüne Zugang zum Wirtschaftsliberalismus fußt auf dem Gedanken eines klug gefassten Ordnungsrahmens, in dem der Staat wichtig Aufgaben für die Volkswirtschaft übernimmt, zum Beispiel in der Forschung und Innovation. Es darf mit einigem Recht bezweifelt werden, dass deren Steuerung allein durch das, was einzelne Unternehmen aus kurz- und mittelfristigen Markt- und Gewinnerwartungen heraus leisten können, ausreichend ist. Kein Staat, der die langfristige Entwicklung einer fortgeschrittenen Volkswirtschaft sicherstellen will, kann hier alleine auf Marktkräfte vertrauen.

Die grüne Idee des Sozialen

Nicht nur die Stammpartei des Liberalismus in Deutschland hat es versäumt, die Chancen der tiefgreifenden kulturellen Liberalisierung der Gesellschaft für ihre Erneuerung zu nutzen. Auch die SPD verpasste strategische Chancen. Zwar machte sie früh schon das Angebot, mit „Willy“ auch den „Wandel“ zu wählen. Und als Teil der sozialliberalen Koalition begründete sie eine ganze Reformära der Bundesrepublik. Lambsdorffs marktradikale Wende, die das Ende dieser Ära besiegelte, trieb einige linksliberale FDP-Vertreter wie Günter Verheugen oder Ingrid Matthäus-Maier dann auch zur SPD, wo sie zum Teil beachtliche Karrieren machten. Doch sie konnten die SPD nicht tiefergehend prägen. In den Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt war die Luft für neue Ideen immer dünner geworden. Von Brandts „Mehr Demokratie wagen“ war nicht mehr viel zu spüren. Mit den Berufsverboten und dem „Deutschen Herbst“ 1977 mündete der demokratische Impuls in bleierne Zeiten. Es war nicht das erste Mal, dass die autoritäre Geste die praktische Politik der Sozialdemokratie dominierte – jene Partei, die die Demokratie so mutig gegen den Nationalsozialismus verteidigt hatte und die zuvor Speerspitze im Kampf für das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht gewesen war – während viele Liberale sich wohnlich im preußischen Dreiklassenwahlrecht eingerichtet hatten.

Aber nicht nur die liberale und radikaldemokratische Impulse wurden konterkariert, sondern auch die ökologischen. Erhard Eppler, eines der wichtigsten innerparteilichen Reformer in den 1970er Jahren, kann ein Lied davon singen. Er scheiterte mit seinem Versuch, die Sozialdemokratie ergrünen zu lassen. Ebenso erging es Ernst Ulrich von Weizsäcker und Hermann Scheer. Alle drei waren für die Entwicklung der politischen Ökologie wichtig, fanden in der SPD aber nicht die Resonanz, die es gebraucht hätte, um der Partei eine dezidierter ökologische Ausrichtung zu geben. Zudem unterschätzten die führenden Sozialdemokraten und ihr damaliger Bundesgeschäftsführer Peter Glotz die neu entstandenen Grünen auch deswegen, weil sie vor allem darauf achteten, dass hart Backbord nichts einschlug, also aus dem Bereich der damaligen marxistischen Kleinparteien.

Das ökologische Defizit bei der SPD könnte insofern verwundern, als die ökologische Transformation der Industriegesellschaft eigentlich nah am Themenspektrum dieser alten Industriepartei lag. Und wiederum Willy Brandt hatte schon 1961 gefordert, dass der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau werden müsse. Andererseits war die SPD durch ihre korporativistische Einbindung in den alten Industrialismus der Bundesrepublik unendlich weit weg von einer ökologischen Neuausrichtung. Wie weit, das zeigt sich auch in den letzten Gefechten um den Braunkohleausstieg, bei dem die strukturkonservativen Beharrungskräfte in der Sozialdemokratie sich auch heute noch in der Bremserrolle gefallen.

Mehr Reformgeist erreichte die SPD dann von außen. Einmal im Sinne der Grünanteile eines „rot-grünen Projekts“, die in Erfolgsbilanzen dann gerne auch als „sozialdemokratisch“ markiert wurden. Dann aber vor allem mit Blairs „New Labour“-Politik, die man sich zum Vorbild erkor. Das Ergebnis waren die Hartz-Reformen, die zu einem lang anhaltenden und nicht abgeschlossenen Streit innerhalb der SPD und der Linken insgesamt führten. Zu einem der Wortführer der Kritik wurde der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine, der mit seinem Parteiaustritt und via WASG dann auch die sogenannte „Westausdehnung“ der PDS zu seinem Anliegen machte. Gleichzeitig hatte die SPD mit einem längerfristigen sozioökonomischen Wandel zu kämpfen, mit dem Übergang von einer relativ homogenen fordistischen Industriegesellschaft hin zu einer individualisierten, postfordistischen Gesellschaft, in dessen Verlauf das tragende Milieu der Partei immer mehr abschmolz.

Der auf dem Blairschen Weg unternommene Modernisierungsversuch, der auch eine Antwort auf diese sozioökonomischen Umbrüche sein sollte, beinhaltete für die SPD eine tiefgreifende Umstellung oder zumindest Umgewichtung im Menschenbild – weg vom klassischen homo solidaricus der sozialdemokratischen Tradition, hin zum homo oeconomicus der wirtschaftsliberalen Tradition. Das bedeutete einen tiefen Bruch mit einem alten sozialdemokratischen Geist und wurde von großen Teilen der SPD-Anhängerschaft eben nicht als Hinwendung („Fördern“), sondern als Distanzierung (“Fordern“) von den einkommensschwächeren und formal weniger qualifizierten Teilen der Bevölkerung empfunden. Die SPD hat zum Teil bis heute nicht erkannt, welche Rolle die Semantik des „Förderns und Forderns“ tatsächlich spielte. Diese Rede mag im internen Umgang mit Klienten des Sozialsystems einen guten Sinn machen – nämlich dort, wo sie Hilfe zur Selbsthilfe im Rahmen einer klar geregelten Wechselseitigkeit meint. Jenseits solcher „Vier-Augen“-Situationen und als Teil einer offiziellen politischen Rhetorik wird sie von vielen Menschen dagegen als Demütigung und soziale Ausgrenzung empfunden. Sie sehen sich als Objekte eines paternalistischen „Redens über Dritte“ bloßgestellt, als Gegenstand einer öffentlichen Ansprache, die sich eigentlich an ein leistungsfähigeres oder auch nur besser verdienendes Publikum richtet, an die Gewinner einer Globalisierung, für die „die Hartzer“ nicht mehr „gut genug“ sind.

Bei der konkreten Umsetzung der Reformen gab es in der Tat ein deutliches Übergewicht des Forderns gegenüber dem Fördern. Und auch der Kontext der immer weiter auseinandertretenden sozialen Einkommens- und Vermögenschere und die fraglos aufgebrachten hohen Milliardenbeträge für die Bankenrettung trugen dazu bei, dass die SPD ihres Markenkerns der sozialen Gerechtigkeit verlustig ging. Zum Krisenszenario gehört auch die Beteiligung der SPD an drei schwarz-roten Bundesregierungen in kurzer Abfolge. Als Teil einer inzwischen auch zahlenmäßig nicht mehr „Großen“ Koalition verlor die Partei noch weiter an Kontur. Sie wurde haftbar gemacht für alles Negative, das sich mit den Hartz-Reformen verband. Gleichzeitig gelang es dem langjährigem Koalitionspartner Union sich die wirtschaftlichen Erfolge des Landes ans Revers zu heften.

Inzwischen ist die SPD von einer tiefen Melancholie erfasst. Sie kann keine schlüssige Antwort auf die Frage geben, was eigentlich die Aufgabe der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert sein soll. Doch auch das Ausbleiben der Antwort ist für die verunsicherte Anhängerschaft schon eine Antwort. Und wie um noch ein Ausrufezeichen hinzuzusetzen, hat die einst so traditionsbewusste Partei auch ihre historische Kommission aufgelöst – als sollte sich nach dem Verblassen der Zukunftsvision auch die eigene Herkunft noch verunklaren. Nach einem langen Schwelbrand scheint der soziale Markenkern der SPD in einer bis vor kurzem kaum vorstellbaren Weise verglüht zu sein. Es erscheint fraglich, ob die aktuelle Rede der Parteiführung von einer „Überwindung von Hartz IV“ daran noch etwas ändern kann.

Die Krise der SPD hat auch Folgen für die Grünen, deren erste Regierungsbeteiligungen sich ja unter der Ägide eines „rot-grünen Projekts“ vollzogen. Auch nach den von der SPD-Spitze einseitig verkündeten Neuwahlen zum Bundestag und dem Ende der rot-grünen Koalition im Jahr 2005 hielten die Grünen der nun großkoalierenden SPD die Treue. Die Verbindung erschien als „natürliche“ und dauerhafte Symbiose, wobei auch die Wählerwanderungen lange noch nach dem Prinzip kommunizierender Röhren funktionierten: Was die eine Partei verlor, gewann die andere hinzu – und umgekehrt. Entsprechende Wählerwanderungen sind immer noch beachtlich, wenn auch nicht mehr so ausschließlich wie zuvor. Denn auch mit der Union haben die Grünen nun einen gewichtigen Wähleraustausch. Und nicht zuletzt auch mit der Linkspartei.

Doch das Lagerdenken verblasste weiter und die Grünen betonten ihre Eigenständigkeit deutlich stärker. Sie wandten sich gegen politische „Ausschließeritis“ und regieren heute mit Parteien aus beiden alten Lagern. Sie tun es auch in sogenannten „Komplementärkoalitionen“, in denen die Partner sich wechselseitig ausdrücklich Raum für ihre jeweiligen Schwerpunkte gewähren. Unter den Bedingungen eines „komplexen“ Regierens, das sich daraus ergibt, sorgt vor allem das ökologische Paradigma für die nötige Kontur und Konsistenz bei den Grünen. Es hält ihre Politik zusammen und gibt ihr die nötige Wiedererkennbarkeit.

Gleichwohl sind die sozialen Fragen mit der Relativierung der Lager und der Krise der SPD nicht aus der Welt – auch und gerade nicht für die Grünen. Denn sie haben einen eigenen und sehr zeitgemäßen Zugang zum Sozialen. Er hat auch mit ihrem besonderen liberalen Erbe zu tun. Denn zusammen mit dem Erbe des bürger- und freiheitsrechtlichen Liberalismus haben sie auch ein Erbe des Sozialliberalismus angetreten. Der Zusammenhang zwischen beiden Erbschaften zeigt sich vor allem dort, wo der grüne Grundwert des Sozialen sich mit dem der Selbstbestimmung und der persönlichen Autonomie verbindet. Diese Verbindung ist eine Grundlage für die soziale Idee der Grünen. Ebenso wie eine Vorstellung von Subsidiarität, nach der Sozialpolitik und staatliches Handeln allgemein nicht paternalistisch und autoritär über Individuen entscheiden, sondern deren Eigenverantwortung fördern und unterstützen sollte. Hier liegen gewichtige Unterschiede zu traditionell sozialdemokratischer und altlinker Politik. Der Akzent der grünen Sozialpolitik liegt beim Fördern und nicht einfach beim Verteilen oder beim Kontrollieren und Reglementieren. Sie will befähigen und – im Unterschied zum kalten homo-oeconomicus-Denken – keinen Menschen „verloren“ geben.

Es wäre interessant zu sehen, inwieweit der Unmut gegenüber den Hartz-Reformen auch damit zu tun, dass der sinnvolle Subsidiaritätsgedanke hier bloß rhetorisch anklang, aber nicht wirklich leitend wurde. Wirklich bestimmend war stattdessen eine Mischung aus zwei Welten: eine in ihrer praktischen Umsetzung wenig fördernde homo-oeconomicus-Orientierung, die sich mit einem altsozialdemokratischen Paternalismus verband, der nun Teile seiner eigenen Klientel „kontrolliert“ aus dem alten Wohlfahrtsstaat in die prekarisierten Ränder des Arbeitsmarktes verabschiedete. Die Grünen sollten gerade an dieser Stelle einen feinen Sinn für die Unterschiede zwischen Rhetorik und realer Politik entwickeln. Sie sollten es tun, damit ihr originärer Zugang zum Sozialen nicht zum Spielball einer Politik wird, die sich ihrer Semantik nur äußerlich bedient.

Der grüne Zugang zum Paradigma des Sozialen hat auch damit zu tun, dass sie im Unterschied zur SPD nie eine „fordistische“ Partei waren. Ihnen fehlte die Mitgliederbreite, der symbiotische Bezug zu den Gewerkschaften und das hierarchische Organisationsdenken. Ihr Ursprungsort war die sich individualisierende Gesellschaft. Sie leben und denken in „flachen“ Hierarchien. Selbstbestimmung und individuelle Lebensgestaltung sind dabei zentrale Werte. Allerdings orientieren sie sich dabei nicht am individualistischen Menschenbild der nutzenorientierten Ich-AG. Der grüne Individualismus unterscheidet sich vom Menschenbild des traditionell interessenbürgerlichen FDP-Individualismus, das die Arbeit der politischen Verallgemeinerung ja am liebsten der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen möchte.

Die Grünen sollten nicht nur in ihrer Gesellschafts-, sondern auch in ihrer Sozialpolitik ihre kantisch-citoyenhaften Ansprüche auf Selbstbestimmung und Verallgemeinerbarkeit stark machen. Auch das liegt schon in der sozial-liberalen Traditionslinie begründet, die sie auf ihre Weise weiterführen. Tatsächlich geht es um eine Solidarität, die nicht länger auf der Homogeneität von Lebensgeschichten und sozialen Lagen gründet, sondern eine komplexe und mehrschichtige Verbindlichkeit darstellt, die über die vorfindlichen Unterschiede hinweg oft auch erst zu schaffen ist. Hier liegt ein entscheidender Unterschied sowohl zur klassischen und inzwischen auch linksparteilich organisierten Sozialdemokratie einerseits wie zur New-Labour-Sozialdemokratie und einem noch härteren Marktliberalismus andererseits. Auch von dieser „geburtlichen“ Differenz sollten die Grünen bei der Formulierung ihres Diskurses der sozialen Gerechtigkeit ausgehen – eines Diskurses, der wie gesagt nicht mehr auf Vor-Verallgemeinerungen durch gemeinsame Klassenlagen setzt, und weniger noch auf das Versprechen, das blinde Marktkräfte schon im Nachhinein für das allgemein Beste sorgen.

Der lebensweltliche Ausgangspunkt eines solchen Diskurses ist die besondere grüne Empathie für die vielen unterschiedlichen Problemerfahrungen des Sozialen: Kinderarmut, Bildungsarmut und ungleiche Chancen, mangelnde sprachliche Integration, Armutsrisiken von Alleinerziehenden, mangelnde Geschlechtergerechtigkeit, geringere Entlohnung und gläserne Decke für Frauen, Dequalifikation ganzer Berufsgruppen, prekäre Beschäftigung und working poor, Erfahrungen der Demütigung und Missachtung im Sozialsystem, Missachtung von Lebensleistung und schneller Absturz in Hartz IV, Wohnungsnot, drastische Mietpreissteigerungen und Gentrifizierung, Altersarmut und Pflegenotstand, mangelnde Inklusion von Menschen mit Behinderung, die Marginalisierung ländlicher Räume und nicht zuletzt das Wissen darum, dass die Allerärmsten es sind, die die Folgen der ökologischen Probleme am meisten zu tragen haben - am Anfang des grünen Gerechtigkeitsdiskurses steht eine besondere Empathie für die unterschiedlichen Erfahrungen von Leid, Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Und auch ein Wissen darum, dass glänzende Oberflächen Erfahrungen von Leid und sozialem Ausschluss in besonderer Weise überdecken und verschärfen können. Denn es stimmt immer noch: „Die im Schatten sieht man nicht!“ Wohl wissend, dass die Bundesrepublik ein relativ reiches und wohlgeordnetes Land ist, sollten die Grünen eine empathische Kraft der Artikulation von sozialen Problemlagen sein, und nicht eine der Desartikulation, der Verdrängung oder des selbstgefälligen Lächelns. Eine solche Haltung ist bei den Grünen keineswegs nur Taktik, sondern tief angelegt im Engagement vieler Aktiver – etwa der grünen Apothekerin, die den Schwerpunkt ihres sozialen und politischen Engagements gerade nicht in berufsständischer Lobbyarbeit sucht, sondern sich in der Flüchtlingshilfe engagiert. Und klar ist auch: Hier gibt es nicht nur die eine oder einige wenige Antworten. Die Grünen müssen eine Idee des Sozialen formulieren, die der Individualisierung und den vielfältigen Brüchen, Veränderungen und Neuorientierungen in modernen Lebensläufen gerecht wird. Sie sollten dabei auch ihren komplexen Gerechtigkeitsbegriff nicht vergessen, der verschiedene Gerechtigkeitsdimensionen kennt und im Blick behält und gerade nicht gegeneinander ausspielt. So wissen die Grünen sehr genau, dass mangelnde Geschlechtergerechtigkeit eben kein „Nebenwiderspruch“ des Sozialen ist!

Eine wichtige Dimension der Gerechtigkeit liegt in der Chancengerechtigkeit. Gerade auch der Zugang zu Bildung und Qualifikation ist wesentlich. Er ist entscheidend in einer Zeit, in der Chancen auf dem Arbeitsmarkt mehr denn je von der Bildung abhängen – und Bildung selbst viel zu stark vom Geldbeutel der Eltern! Schon die vorschulische Bildung und Betreuung muss hier ein Gegengewicht sein. Sie muss gut und qualitätsvoll sein und Defiziten beim Eintritt in den weiteren Bildungsgang vorbeugen. Gleichzeitig darf der Akzent auf Bildung und Betreuung nicht zur Verdrängung der anderen Dimensionen von Sozialpolitik führen. Denn Sozialpolitik ist noch mehr und anderes als Bildungspolitik.

Eine weitere Dimension ist die Anerkennungspolitik, die an der Schnittstelle zwischen Sozialpolitik im engeren und Gesellschaftspolitik im weiteren Sinne liegt. Anerkennungspolitik unterstützt Individuen in ihren Möglichkeiten, besondere Identitäten herauszubilden und sie zwanglos und frei von Diskriminierung leben zu können. Die Grünen als klassische Regenbogenpartei sind hier mit ihrem Engagement in der Frauenpolitik, bei Gender- und Bürgerrechtsfragen und für den Respekt für Minderheiten gut aufgestellt. Aber auch diese Seite darf nicht gegen die anderen ausgespielt werden, so wie Populisten das ja versuchen, wenn sie für einen kulturellen „backlash“ gegen die soziokulturellen Liberalisierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte trommeln. Die Grünen sind eine Partei, die in besonderer Weise die Anliegen und Interessen von Minderheiten vertritt. Sie sind aber auch eine Partei, die vermittelt und Brücken baut in die Mehrheitsgesellschaft. Diese Zweiseitigkeit sollten sie noch stärker entwickeln. Sie haben nicht nur Empathie für die Anliegen derer, die sonst nicht gehört werden, sondern sie übersetzen diese Anliegen auch in eine Sprache, die sie für andere evident macht.

Das bedeutet dann zum Beispiel auch viel Fingerspitzengefühl in der „Sprachpolitik“. Das Gendern von Sprache kämpft gegen die in Sprache subtil angelegten Formen von Herrschaft und Diskriminierung. Gleichzeitig steht die gegenderte Sprache in Gefahr, als Sondersprache empfunden zu werden, mit der sich eine Bildungselite vom Rest der Gesellschaft absetzen will. Populisten nutzen das sehr geschickt für ihre Zwecke. Grüne Sprachpolitik sollte deshalb mit praktischer Klugheit und einem gerüttelt Maß an robuster Zivilität ausgestattet sein. Nicht jeder, der „Zigeunerschnitzel“ sagt, ist ein Rassist.

Die Grünen dürfen sich auch nicht als Partei etikettieren lassen, die über die Identitätsfragen einzelner Gruppen die sogenannten „harten“ sozialen Fragen – etwa die der materiellen Verteilung – aus dem Blick verliert. Sich auch solchen Fragen zu widmen meint in einer Zeit, in der die Schere der Einkommens- und Vermögensunterschiede auseinanderklafft, dass auch der Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit nicht obsolet ist. Er darf vor allem auch nicht von einem ethnisierenden Begriff von Verteilung verdrängt oder überlagert werden, der soziale Fragen nationalistisch desartikuliert – etwa als Kampf des „eigenen Volkes“ gegen Migranten, Flüchtlinge und „Fremdarbeiter“. Hier liegt ein wichtiger Konfliktpunkt der Grünen mit den von Oskar Lafontaine und Sara Wagenknecht repräsentierten Teilen der Linkspartei, die mit der Idee eines „linken“ Populismus spielen. Die soziale Idee der Grünen ist der Aufklärung verpflichtet und dezidiert antipopulistisch.

Die Idee der grünen Bürgerversicherung war und ist gut. Die Entlassung von hohen Einkommen und Vermögen aus den solidarischen Sicherungssystemen, die in der Bundesrepublik praktiziert wird, ist nicht mehr zeitgemäß. Auch die Einführung des Mindestlohns war überfällig. Er muss nun in seiner Höhe so angehoben werden, dass working poor tatsächlich verhindert und ein gehöriger Abstand zu Hartz-IV-Leistungen geschaffen wird. Ein Großteil der Debatten darüber, ob, und wenn ja, welcher „fordernde“ Druck auf die Bezieher von Transferleistungen auszuüben sei, würde sich wohl erübrigen, wenn die Anreize nicht vor allem nur negative wären, und vor allem im staatlichem Druck, sich in prekäre Arbeit zu begeben, bestünden, sondern wenn sie auch und vor allem positiv wären – und das meint nicht zuletzt gute und akzeptable Arbeitslöhne.

Ein originäres Anliegen grüner Sozialpolitik, das die individuelle Verfügung über das eigene Leben erweitern will, ist die moderne und innovative Zeitpolitik. Sie will Menschen mehr Verfügung über den Umfang der Arbeitszeit, wie auch über die Zeit, in der sie verrichtet wird, geben. Auch Arbeitszeitverkürzungen sind nicht einfach des Teufels – zumal in einer Zeit, in der Robotik und intelligente Systeme die gesellschaftlich nötige Arbeitszeit deutlich verringern. Dass Lohnerhöhungen auch in Freizeitausgleich umgewandelt werden können, kann vielen Menschen viel bedeuten, ohne dass es gleich eine grundstürzende Umwälzung der Arbeitsbeziehungen bedeutet.

Und auch Debatten über soziale Garantiesicherungen sind nötig. Intelligente Sicherungen könnten zumindest Teilantworten auf die Probleme einer sich individualisierenden Gesellschaft. Zudem: Das citoyenhafte Modell der Verallgemeinerung gewinnt auch dort eine besondere Bedeutung, wo die kollektive Interessenvertretung nach dem traditionellen Modell der sozialpartnerschaftlichen Aushandlung alleine nicht mehr ausreichen. Die Einführung von Garantiesicherungen würde auch vor dem Hintergrund angemessener Mindestlöhne vieles von ihrer Brisanz verlieren. Allerdings sollten konkrete Vorschläge auf gute empirische Fundamente gestellt werden. Damit würden auch Debatten darüber, ob „der Mensch“ nun eher faul oder arbeitswillig ist, ziemlich müßig. Man sollte hier deutlich experimentierfreudiger sein und verschiedene Möglichkeiten lokal und regional ausprobieren und auch Erfahrungen aus anderen Ländern auswerten. Im Blindflug und ohne tragfähige Erfahrungsgrundlagen wird kein guter Wurf gelingen.

Eine besondere Schwierigkeit bietet schließlich eine weitere Gerechtigkeitsdimension, nämlich die der – oft auch nur so genannten – „Generationengerechtigkeit“. Deren eigentlicher und höchst berechtigter Ort ist die Ökologie und die Sorge darum, dass die Umweltzerstörung und der übermäßige Ressourcenverbrauch vor allem auf Kosten nachfolgender Generationen geht. Diese in der Mensch/Natur-Beziehung gründende Idee von Nachhaltigkeit wurde jedoch – mehr oder weniger unmerklich – auf die Mensch/Mensch-Beziehung übertragen und dabei teilweise mystifiziert. Politische Ideologen propagierten nicht ungeschickt eine krude personalisierende Idee des Sozialen, um mit einem Köpfezählen „Alt“ gegen „Jung“ demographische Konflikte an die Wand zu malen und auch Rentenkürzungen durchzusetzen, die zu einem stark gestiegenen Risiko der Altersarmut führten. Bei allen Problemen der Demographie, die es tatsächlich gibt, täten die Grünen gut darin, auch den für ihre Politik so zentralen Begriff der Nachhaltigkeit ähnlich wie den der Subsidiarität besser zu schützen und ihn klarer gegen Begriffsbildungen abzugrenzen, die den Blick auf die Verteilungsprobleme einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit hohen Produktivitätszuwächsen durch ein archaisches Köpfezählen ideologisieren. Der eigentliche Ort eines solchen Denkens sind traditionelle und vormoderne Gesellschaften, aber nicht die industrielle oder auch postindustrielle Moderne. Die Grünen sollten einem solchen versteckten Malthusianismus sehr deutlich zurückweisen und ihm ihr „kein Mensch ist zu viel, kein Mensch ist überzählig“ entgegensetzen.

Der Anspruch, auch in der Sozialpolitik ein zeitgemäßes Angebot zu formulieren, meint für die Grünen mehr als nur die Komplettierung ihres politischen Portefeuilles. Als politisch verantwortliche Kraft mit ganz eigenen sozialpolitischen Ideen und Wurzeln können sie sich hier keine blinden Flecke leisten und müssen gute und zeitgemäße Antworten geben. Das gilt umso mehr, als SPD und Linkspartei, die sich ja als dezidierte Parteien des Sozialen verstehen, hier teilweise in einem alten Denken feststecken und weit weniger in der sich individualisierenden Gesellschaft zu Hause sind als die Grünen. Die Grünen wären gut beraten, diesen Vorsprung nicht zu verspielen. Sie sind schon über weite Strecken schon dort angekommen, wo andere sich erst mühsam hinbewegen müssen. Eine klare und innovative sozialpolitische Aufstellung ist deshalb ein weiterer wichtiger Baustein, um tatsächlich über die Rolle des bloßen Korrektivs hinauszukommen. Die neue Führung mit Annalena Baerbock und Robert Habeck scheint erkannt zu haben, dass es auch hier um hegemoniale Fragen geht. Nötig ist ein prägnantes, wiedererkennbares und mit großer innerparteilicher Geschlossenheit vorgetragenes Konzept.

Wertkonservative Perspektiven

Das Profil der SPD als originärer Partei des Sozialen ist lädiert. Stärker noch als das einer Union, die in der Bundesrepublik ja lange das „konservative Lager“ repräsentierte – auch wenn der ideengeschichtliche Bezug hier etwas komplizierter ist. Denn die CDU bekannte sich erst in den späten 1970er Jahren zu dieser ideengeschichtlichen Wurzel, zehn Jahre nachdem die CSU dies getan hatte. Der Begriff des Konservativen erschien in der Nachkriegszeit, in der seine antidemokratische Einfärbung aus der Weimarer Zeit noch stark präsent war, zu kontaminiert. Faktisch hat die Union dann ihre Version des Konservativen aber fest in der Bundesrepublik und ihrer liberalen Ordnung verankert. Wenn man weiß, dass diese liberale Ordnung – und nicht etwa die politische Linke – das wichtigste Feindbild des Weimarer „Konservatismus“ war, dann ist das ein historisches Verdienst der Union.

Das Konservative dient in der Bundesrepublik und anderswo als übergreifende Lagerbezeichnung. Die Union reklamiert es – neben dem Christlich-Sozialen und Liberalen – als eine ihrer drei Wurzeln. Mit dem Versuch einer solch breiten Verwurzelung reflektiert sie faktisch bestehende Flügel und Strömungen der Partei. Gleichzeitig greift sie denkbar weit auf die politische Ideengeschichte aus. Allerdings hat das auch einen gewissen Schaufenstercharakter und soll als Ausweis volksparteilicher Allzuständigkeit dienen. Praktisch war die Union nie eine wirkliche Programmpartei, viel weniger jedenfalls als die ebenfalls volksparteiliche SPD. Das Wort vom „Kanzlerwahlverein“ gibt hier einigen Aufschluss. Er wird auch von Unionsvertretern benutzt, wenn sie durchaus selbstkritisch darauf aufmerksam machen wollen, wo im Spannungsfeld zwischen Programm und politischen Ideen und den Ambitionen des Personals die tatsächlichen Prioritäten liegen.

Das konservative Profil der Union ist aktuell ziemlich verwässert. Auf der wahrnehmbaren Oberfläche gibt es eigentlich nur noch zwei „konservative“ Aushängeschilder: die „Schwarze Null“ in der Haushaltspolitik, die im Bund auch unter dem zuständigen SPD-Minister Bestand hat, und der rein pragmatisch und weitgehend inhaltsfrei vorgetragene Anspruch, gutes und verlässliches Krisenmanagement zu betreiben. Zudem leidet die Union noch immer unter dem komplizierten Zweifrontenkrieg, den ihr vor allem die CSU eingebrockt hat. In einem Schaukampf gegen „die Flüchtlinge“ und für eine härtere Gangart in der Asylpolitik wollte die CDU-Schwester ihr eigenes „konservatives“ Profil stärken – vor allem auch, um die AfD zurück drängen. Letztlich wurde nur die AfD gestärkt. Denn die zweite, innerparteiliche Front, die mit der ersten gleich mit aufgemacht wurde, erschütterte die ganze Union bis ins Mark. Sie ging „gegen Merkel“, also gegen die eigene Kanzlerin und die unionsgeführte Bundesregierung insgesamt. Und unterschwellig meinte sie auch die unabweisliche Modernisierung, die Angela Merkel in der Union zumindest in Ansätzen verfolgt. Der Konflikt zwischen Modernisierung und rechtskonservativer Profilierung dürfte auch mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden und designierten Kanzlerkandidatin nicht zu Ende sein. Der Union geht es ähnlich wie der SPD. Auch in ihren Reihen glimmt ein Schwelbrand, der ihren Volksparteicharakter bedroht.

Was bedeutet das für die Grünen? Muss es überhaupt etwas bedeuten? Denn anders als beim liberalen und sozialen Paradigma sind die Überschneidungen und Verwurzelungen im konservativen Paradigma doch eher überschaubar. Versuche aus den Anfangsjahren, die Grünen auf eine rechtskonservativ-völkische Blut-und–Boden-Ökologie zu verpflichten, blieben Episode. Die Grünen sind – Gott sei Dank – genau den entgegengesetzten Weg gegangen, hin zu einem liberalen Ökologismus mit sozialem Antlitz. Warum sollten sie heute also über „das Konservative“ nachdenken, statt es einfach links – oder besser gesagt rechts – liegen zu lassen?

Eine wichtige Antwort liefert ein Blick auf die Unausweichlichkeit, mit der die Union heute auf ihre Modernisierung verwiesen ist. Diese gründet nämlich genau in jener tiefgreifenden soziokulturellen Liberalisierung, für die politisch zuallererst die Grünen stehen. Der städtisch-weltoffene, ökologisch sensible Lebensstil setzt sich immer mehr durch. Gleichzeitig verliert die Union Boden in den großen Städten und Ballungsräumen. Aber auch in den sich modernisierenden, mittelstädtisch geprägten Räumen, und inzwischen sogar in den alten Hochburgen auf dem Land. Plakativ gesprochen: Gewichtige Teile der Unionsanhängerschaft und -mitgliederschaft fordern ebenfalls ihren Anteil an „Woodstock ff.“ Das mag in den Ohren junger Großstädter heute bereits ziemlich old-school-mäßig klingen. An sozialen Orten, an denen die Union unterwegs ist, hat es durchaus noch einen Neuigkeitswert – ein Umstand, der auf eine große soziokulturelle Ungleichzeitigkeit verweist. Jimi Hendrix liegt eben immer noch ziemlich weit vor Hirschgeweih und Gelsenkirchener Barock – und wird es immer tun!

Viele Menschen, die sich selbst dem konservativen Lager zuordnen, erkennen sich auch immer weniger in Auslegungen des Konservativen wieder, mit denen etwa Alexander Dobrindt eine „konservative Revolution“ gegen den soziokulturellen Wandel beschwört. Viele Christinnen und Christen oder Menschen, die einfach nur „anständig“ sein wollen, haben ein Problem damit. Es ist ganz wesentlich dieses Spannungsverhältnis im konservativen Spektrum, aus dem heraus die Grünen für ein bestimmten Teil dieses Spektrums interessant werden – untergründig oder offen, und nicht erst seit gestern, wie ein Blick auf die schwarze-grüne „Pizzaconnection“ aus den 1990er Jahren zeigt. Für die Union steht die Frage, ob sie sich den neuen Gegebenheiten wirklich anpasst oder Speerspitze der in der Union noch ziemlich starken Traditionsbataillone sein will, die sich dem Wandel entgegen stemmen.

Das konservative Paradigma ist insgesamt diffuser als die liberalen und sozialen Ansätze. Es besteht stärker aus Teilparadigmen, aus Ideen und Haltungen, die mehr gefühlt als bewusst formuliert werden. Und auch grundsätzlich geteilte konservative Intuitionen können in ganz unterschiedliche Orientierungen münden. Auch das sollten die Grünen gut verstehen. Erhard Eppler, der „grüne“ Sozialdemokrat, hat hier sehr viel verstanden und einen wichtigen Beitrag zur Öffnung des konservativen Paradigmas geleistet. Mit seiner Unterscheidung zwischen Wert- und Strukturkonservativismus entwickelte er Mitte der 1970er Jahre eine folgenreiche Idee. Er setzte das Hochhalten und Bewahren von sozialen oder ökologischen Werten dem bloßen Bewahren von überkommenen Machtverhältnissen und Industriestrukturen entgegen. Das war eine neue und kluge Unterscheidung. Sie befreite das im Sinne eines Wertkonservatismus gefasste Konservative aus der „Gesäßgeographie“ der links/rechts-Unterscheidung und machte neue Bündnisse und Kooperationen denkmöglich. Auch Linke konnten sich fortan als „konservativ“ verstehen, wenn sie etwa das Bewahrenswerte in Natur, Umwelt und Gesellschaft gegen die Atom-, Kohle- oder Rüstungslobbys verteidigten – Interessengruppen, die über große Bastionen in allen damaligen Bundestagsparteien verfügten.

Auch Winfried Kretschmann, der in seinem Buch Worauf wir uns verlassen wollen eine „neue Idee des Konservativen“ formuliert, verweist auf Eppler. Tatsächlich haben die Markenkerne der Grünen, das Ökologische und der diesem eigentümlich assoziierte, bürgerrechtlich und sozial gedachte Liberalismus, bemerkenswerte Schnittmengen mit einem weltoffenen, nicht reaktionären Konservativismus. Ja, ein Konservativismus, der sich von der Zukunft her denkt, statt melancholisch in der Vergangenheit zu verharren, der eine wesentlich auch von der christlichen Soziallehre formulierte Idee der Subsidiarität ernst nimmt und vom Kleinen zum Großen denkt, der Ehrenamt sagt, aber nicht viel anderes meint als zivilgesellschaftliches Engagement, der Heimat sagt und das auch im Dialekt ausspricht, und damit nicht viel anderes meint als die liberalen Gemeinschaften eines gemäßigten Kommunitarismus, der Moralisiererei nicht mag und Menschen erst einmal so nimmt, wie sie sind, ohne die Nase zu rümpfen – wer so denkt und handelt, der hat es zu den Grünen nicht mehr weit. Und er bringt einige Dinge mit, an denen die Grünen sich erst üben und die sie eigentlich viel selbstverständlicher praktizieren sollten – und müssen, so die Idee von der Hegemonie keine Chimäre sein soll.

In der näheren Auseinandersetzung mit den konservativen Ideen spielt das ökologische Paradigma eine besondere Rolle. Hier gibt es Sequenzen mit annähernd gleicher DNA. Denn auch die ökologische Idee gründet zutiefst in einer Dialektik der Aufklärung, die im konservativen Denken ihre erste Heimstätte fand – nämlich als Achtsamkeit auf die Folgen eines revolutionären Wandels, der nicht nur Positives schafft, sondern auch zerstörerisch ist und die reklamierten Gewinne mitunter als sehr vermeintliche erweist. Die kritische, im ökologischen Paradigma so zentrale Technikfolgenreflexion ist im konservativen Paradigma bereits angelegt – wie sehr sie dort zunächst auch im Kontext von romantisch-retrotopischen Rückkehrfantasien in ein vermeintlich besseres Gestern gestanden haben mag.

Wie stark die Überschneidungen sind, zeigt auch die Rede vom „Erhalt der Schöpfung“, in der ein christlich-konservatives Denken das ökologische Paradigma in eine eigene Semantik überführt. In der Überlappung der Diskurse, die hier sichtbar wird, geschieht etwas für politische Praxis höchst Relevantes. Es macht dieselben praktischen Anliegen von unterschiedlichen Standpunkten aus zum Thema. Das wiederum kann eine Grundlage sein, auf der ganz unterschiedliche „ideelle“ Ressourcen zum Schutz von Umwelt, Klima oder Biodiversität zusammen finden – naturwissenschaftliche Erkenntnisse, moralphilosophische und naturästhetische Erwägungen, theologische Positionen und Glaubensüberzeugen. Solche Überlappungen zu ergründen und zu durchdenken und sie in ihrer Motivations- und Orientierungskraft für gemeinsame Anliegen nutzbar zu machen – das ist eine weitere zentrale Aufgabe einer „Ideenpolitik“, die nicht vergessen hat, wo die Ideen letztlich herkommen – nämlich aus höchst praktischen Problemanzeigen. Wer praktisch etwas bewegen will, muss die Probleme und Lösungsansätzen in Sprachen formulieren, die unterschiedliche Menschen motivieren.

Um diesem Ziel näher zu kommen, sollte man auch den Begriff des „überlappenden Konsenses“ von John Rawls zu Rate ziehen. Rawls geht es mit diesem Begriff vor allem um den Grundkonsens über die Institutionen und Verfahren der Demokratie. Er will zeigen, wie die vielfältigen, von einer demokratisch-freiheitlich verfassten Gesellschaft nicht schlechthin erzeugbaren Haltungen und Motivationen zusammen kommen können, um gemeinsam die Demokratie zu tragen. Ein überlappender Konsens meint mehr als das, was im schmaleren Fokus eines reinen Verfassungspatriotismus aufscheint. Er bildet eine breitere lebensweltlich-kulturelle Fundierung der freiheitlichen Ordnung ab. Und das gute ist, dass er es tut, ohne in eine illiberal-antiplurale Position zu verfallen, wie sie etwa in der Forderung nach einer „deutschen Leitkultur“ angelegt ist. Rawls hat tatsächlich eine dritte Position formuliert, die auch für ein liberales und konsensuelles Verständnis von Hegemonie eminent wichtig ist. Das Fundament des Zusammengehens bleibt bei ihm plural und besteht aus der Überlappung vieler guter persönlicher und gemeinschaftlicher Gründe, Werte und Motivationen, die auf ein gemeinsames Ziel hin orientieren, zum Beispiel auf den Schutz der freiheitlichen Verfasstheit der Gesellschaft. Der Staat sollte wertschätzen und anerkennen, was Christen und Nichtchristen, Gewerkschafter oder Naturschützer, Vereinsmenschen und sonst wie engagierte Menschen aus ihren je besonderen Sichtweisen und Antrieben einbringen, ohne dabei sein Neutralitätsgebot zu verletzen. Und eine politische Partei sollte es wertschätzen und mit der Art ihrer Ansprache unterstützen, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Geschichten, Haltungen und Motivationen ihre politischen Ziele unterstützen.

Eine solche Erwägung ist in demokratiepolitischer Perspektive höchst aktuell. So geht es heute auch darum, die Bindekräfte, die in positiven und dabei nicht ausgrenzenden Erfahrungen von „Heimat“, in der Pflege von Dialekten und sonstigen regionalen Besonderheiten liegen, einzubeziehen. Nur deshalb, weil solche Anliegen und Erfahrungen im Kontext des überkommenen Konservatismus oft zu Folklore und bloßer Brauchtumspflege verniedlicht wurden, sollte man sie doch nicht schlechthin ignorieren oder ablehnen. So, wie der regionale Anbau von Lebensmitteln heute wieder hoch im Kurs steht, so könnte auch ein stärkeres Bewusstsein der kulturellen Eigenheiten von Regionen den oft befremdlichen Erfahrungen von Distanz und Andersheit, die sich mit der Globalisierung und dem schnellen sozio-kulturelle Wandel ergeben, eine neue Beheimatung entgegensetzen – einen entstaubten Begriff von Heimat und Zusammenhalt, der auch eine Bestärkung von Demokratie und gesellschaftlicher Zugehörigkeit in sich trägt.

Eine zeitgemäße Neubestimmung von überkommenen „konservativen“ Bezugswerte könnte auch ein Gegenimpuls zu einer völkisch-nationalistischen, in Fremdenfeindlichkeit und Rassismus mündenden Ausdeutung von Eigenwelten sein. Conservare meint dabei ganz wesentlich die Bewahrung der offenen Gesellschaft. Die Geschichte zeigt, dass die Stabilität der Demokratie stark davon abhängt, dass auch ein eher konservativ geprägtes Spektrum der Bürgerschaft sie unterstützt und verteidigt – und gerade nicht in das Lager der Populisten und Völkisch-Nationalen überläuft.

Aber auch die Innen- und Sicherheitspolitik ist hervorzuheben. Sie wird manchmal ja als konservativer Erbhof betrachtet, wobei auch Sozialdemokraten vom Schlage eines Otto Schily die Rolle des Innenministers mit dem Habitus des „starken Mannes“ ausfüllten. Grüne Politik sollte trotzdem – oder gerade deswegen – nicht zögern, auch dieses Politikfeld verstärkt anzugehen. Sie sollte verbreitete Sicherheitsbedürfnisse reflektieren und auch artikulieren. Als bürgerrechtsliberale Partei haben die Grünen hier sogar besondere Kompetenzen. Sie können Freiheit und Sicherheit in sinnvoller Weise zusammenbringen. Nicht mehr zeitgemäß ist die gängige Rollenaufteilung, wonach „konservative“ Innenminister am Fließband freiheitseinschränkende und verfassungsrechtlich bedenkliche Vorschläge zur vermeintlichen Verbesserung der Sicherheitslage produzieren, während eine liberale Rechtsstaatspolitik gezwungenermaßen laut aufschreit, um so der ministeriellen Vorgabe erst jene Öffentlichkeit zu verschaffen, auf die diese zuallererst abzweckte. Die Zeit ist dagegen reif für eine rationalere Variante, eine Innenpolitik, die das Politikfeld versachlicht und ohne populistische Geste auskommt, um in bürgerrechtsschonender Weise das zu tun, was sachlich nötig ist, eine Innen- und Sicherheitspolitik, die Besonnenheit und Entschlossenheit verbindet und statt mit immer mehr Überwachung immer mehr Datenmüll zu produzieren mehr Polizeibeamte auf die Straße bringt, dort, wo dies nötig ist. Die populistische Kommunikation von Innenpolitik ist eines Haupthindernisse, um die Innenpolitik auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Grüne Familienaufstellung

Ausgehend von ihren ureigensten Anliegen haben die Grünen heute die Chance, für große Teil der Gesellschaft zu sprechen. Auch für Menschen, für die sie vielleicht noch nicht erste Präferenz sind. Die Grünen sollten sich als Partei größer denken – ohne alle Großmannssucht. Sie können dabei auch selbstbewusst die großen Traditionen der Moderne aufgreifen, in denen sie faktisch stehen und die sie aus ihrer besonderen Perspektive heraus in wichtigen Teilen selbstbewusst neu formulieren können. Hier liegt für sie das Feld einer real möglichen und Erfolg versprechenden Ideenpolitik. Auch daran, ob und inwieweit ihnen diese ideengeschichtlich breitere Formulierung ihrer Anliegen gelingt, wird sich ihre Hegemoniefähigkeit erweisen.

Sie sollten auch die grüne Partei selbst als Ausdruck eines gewachsenen und gefestigten Konsenses verstehen, in dem sich durchaus unterschiedliche Positionen überlappen. Auch das Wachstum, das sie gegenwärtig erfahren, sollte ihnen neue Perspektiven eröffnen. Die Grünen sind längst nicht mehr die Partei der erbitterten Fundi/Realo-Kämpfe ihrer Frühzeit. Auch die gediegenere Flügelarithmetik, die sich später herausbildete, ist inzwischen etwas verblasst. Ähnliches scheint sich nun für ihre besondere Innenorientierung anzudeuten. Ein Kennzeichen der übermäßigen Selbstbeschäftigung von politischen Parteien liegt ja in der Vorstellung, die eigene und gefühlt „richtige“ Position komplett und „für immer“ durchsetzen zu können, so dass alle anderen Parteimitglieder und die engere Anhängerschaft dann weitgehend von ihr durchdrungen werden. Die Grünen sind jedoch eine in sich eine plurale Partei, die plural bleiben wird. Und ihre wachsende Anhängerschaft wird eine noch weitergehend pluralisierte sein. Die neue Parteiführung hat das offensichtlich erkannt und einen zu stark moralisierenden Gestus in der grünen Politik kritisiert. Auch diese Einsicht hat mit grünem Wachstum zu tun. Kleine Parteien müssen weniger Menschen integrieren und können sich mehr mit der Reinheit der Lehre, der möglichst lückenlosen Konsequenz ihres Handels und seiner moralischen Begründung beschäftigen. Größere Parteien müssen fallweise auch größere Lücken und weniger Geschlossenheit akzeptieren. Der Gewinn, den sie dafür einstreichen, kann in einer insgesamt gewachsenen Relevanz liegen. Sie entwachsen der Rolle eines bloßen Korrektivs in einer Agenda, die primär von stärkeren politischen Partnern bestimmt wird. Die Grünen müssen diese Entwicklung nicht fürchten. Sie können auch darauf vertrauen, dass ihre Grundwerte inzwischen tief in der Gesellschaft eingelebt sind. Tatsächlich hat der Zeitgeist einen Teil der Arbeit übernommen, die der pädagogische Zeigefinder einzelner handelnder Akteure doch nur scheinbar vollbringen kann. Der grüne Citoyengeist sollte darauf vertrauen, dass er sich auch in einem etwas „entspannteren“ Kantianismus realisieren kann.

Und er sollte auch vor einer größeren Pluralität der Semantiken und Ansprachewege keine Angst haben. Wenn das Spitzenpersonal der Grünen nicht genau gleich redet, aber sich gut ergänzt und Menschen zusammen führt, die sehr unterschiedlich sind, dann ist auch das eine Stärkung und Bereicherung. Und es muss dabei auch keine Verunklarung sein, wenn die Grünen mit ihren Gehalten die historischen Linien unterschiedlicher Paradigmen aufgreifen, reformulieren und in neuen Semantiken weiterführen. Bei ihren beiden Markenkernen – der Ökologie und dem bürgerrechtlich und sozial inspirierten Liberalismus – funktioniert das streckenweise schon sehr gut. An der einen oder anderen Stelle könnte es noch bewusster und auch selbstbewusster geschehen. Komplexer ist die Situation beim konservativen Paradigma. Lange wurden die Überschneidungen, die es hier gibt, wenig oder gar nicht wahrgenommen. Heute finden auch viele ehemalige Wählerinnen und Wähler der Union den Weg zu den Grünen. Sie suchen etwas, dass sie in der Union nicht oder nur in unzureichendem Maße finden.

Praktisch-politisch ist den Grünen aufgegangen, dass sie mehr und anderes sind als bloß etwas aus der Art geschlagene Söhne und Töchter der Sozialdemokratie. Und sie sind auch mehr und anderes als ein libertär-anarchisches oder naturromantisch-konservatives Fleisch vom Fleische des Bürgertums. Solche Fehlinterpretationen, die nicht selten auch Verniedlichungs- und Entwichtigungsstrategien der politischen Konkurrenz waren, verfangen längst nicht mehr. Die Grünen pochen auf ihre Eigenständigkeit. Und sie verkörpern mit der Ökologie ein Menschheitsthema, das den modernen Lebensstil prägt und ethische, ästhetische und soziokulturelle Ansprüche von Millionen Menschen bestimmt. Zusammen mit einem Geist der Weltoffenheit und der sozialen Empathie ist das tragfähig genug, um die langen Linien einer konstruktiven Politik für das 21. Jahrhundert zeichnen – so, wie andere Parteien, die originäre politische Grundströmungen verkörpern, es in ihren Glanzzeiten auch getan haben. Die Ideen, die die Grünen prägen, sind stark genug, um Vergleiche nicht zu scheuen und eine Familienaufstellung der großen politischen Ideen der Moderne auszuhalten. Die Grünen wären gut beraten, in ihrer Grundsatzdebatte auch ihre nähere und weitere Verwandtschaft in dieser Geschichte besser kennen zu lernen.

Die Grünen sollten auch die darin angelegte „Historisierung“ als Chance betrachten. Die Historisierung kommt früher oder später sowieso. Dann besser früher, und so, dass sie den Horizont praktisch öffnet als ihn archivarisch oder gar monumentalisch zu verschließen. Sie sollten sich endgültig von dem Gefühl verabschieden, eigentlich zu wenig zu sein. Sie sitzen nicht bloß am Katzentisch der großen politischen Ideen. Sie sind keine Sekundärbildung, die sich eine Existenzberechtigung erschleichen müsste, indem sie Unterschlupf unter dem Dach einer der alten Großideen sucht. Wenn die Grünen sich dazu entschließen, ihre Politik bestimmter auch in Traditionslinien zu reflektieren, die älter sind und mehr umfassen das, womit sie selbst angefangen haben, dann kann auch das die weitere Überwindung des „ideellen“ Minderwertigkeitskomplexes befördern, der ihnen lange aufgeredet wurde und dem sie – bei aller Aufmüpfigkeit im Auftreten – nie ganz entgingen. Andererseits sollten sie auch nicht in naive Größenphantasien verfallen. Robert Habeck hat recht: Demut ist die richtige Haltung, gerade auch angesichts steigender Relevanz.

Das Nachdenken über verschiedene Traditionslinien und die Entwicklung neuer Semantiken kann den Grünen schließlich auch ein deutlicheres Bewusstsein davon geben, dass sie nur gemeinsam stärker werden – und nicht dann, wenn sie glauben, andere wichtige Positionen, die Teil ihres Gesamtangebotes sein sollten, erst einmal nachhaltig schwächen und überwinden zu müssen. Diese Erkenntnis können sie auch aus dem schlechten Beispiel, das die alten Volksparteien in den letzten Jahren abgaben, ziehen. Doch sie müssen nicht nur Einseitigkeit und falschen Rigorismus vermeiden, sondern gleichzeitig auch die Beliebigkeit, die mit gewachsener Größe einhergehen kann. Es geht um mehr und anderes als nur um eine Jagd nach Eyecatchern in der politischen Schaufensterdekoration. Eine nur vordergründige Demonstration von politischer Breite würde umso schneller zu langweiligem Sonntagssprech werden je unschärfer und verschwiemelter sie tatsächlich geriete.

Tatsächlich müssen die Grünen einige Spannungsverhältnisse nicht nur aushalten, sondern deren Momente produktiv unter einen Hut bringen: Ökonomie und Ökologie, Markt und kluge Regeln, Freiheit und Sicherheit, Bewahren und Gestalten – das alles und noch viel mehr müssen sie heute zusammendenken. Und zwar nicht im Sinn von billigen politischen Etiketten oder in langweiligen Additionen, sondern als Orientierungspartei in konkreten und originären Zukunftsprojekten für alle relevanten Politikbereichen. Hier liegt dann auch die eigentliche Kunst: Aus der Vielheit der Meinungen, Haltungen und Motivationen jene Einheit zu machen, mit der sich relevant gestalten lässt.

Und wer hegemonial sein will, muss natürlich auch performen und erkennbar personalisieren. Das, was in verschiedenen Meinungskanälen als „grün“ verhandelt wird, muss sich auch an Meinungsführern festmachen lassen, die ihre je besonderen Anspracheweisen kultivieren. In dieser Hinsicht kommen Relevanz und Performanz eng zusammen. Den Grünen kommt zugute, dass sie in beiden Hinsichten gute Karten haben: Einerseits ist eine „Ideendialektik“ absehbar, die das Verhältnis der ideellen oder – je nach Geschmack – auch hegemonialen Kräfte zu ihren Gunsten verschiebt. Andererseits haben sie erkannt, dass es besser ist, ihre Politik gemeinsam gut nach außen zu vertreten als sich nach innen hin zu zwacken und zu kujonieren.