Interview

Wie radikal muss Politik sein?

Gemeinsames Porträtfoto von Ulrich Shulte und Ulf Poschardt in einem Büro mit großen Fenstern.
© Wolfgang Stahr

Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt-Gruppe, und Ulrich Schulte, Leiter des taz-Parlamentsbüros, im Gespräch über die Grenzen des Kapitalismus, Verbote in der Politik und die Kraft der Straße.

Erstveröffentlichung im Magazin der GRÜNEN 03/2019

Interview: Linda Tutmann

Wer ihre Texte liest, ihnen in Talkshows zuhört und ihre Tweets verfolgt, weiß, dass die Journalisten Ulf Poschardt und Ulrich Schulte konträre Auffassungen vertreten. Persönlich haben sie bisher noch nie miteinander diskutiert, dabei liegen ihre Redaktionen in Berlin-Kreuzberg keinen Kilometer voneinander entfernt. Wir haben sie zur Premiere eingeladen. Ulf Poschardt empfängt Ende August in seinem Büro. Gleich als die beiden sich gegenüberstehen, sind sie sich in einer Sache einig: Wie wichtig es ist, den Dialog zu suchen – denn nur gemeinsam könne man eine Vision entwickeln, wie ein klimafreundliches Wirtschaftssystem und eine nachhaltige Gesellschaft aussehen könnten.

Die Polkappen schmelzen, unsere Meere sind voller Plastik, die Biodiversität nimmt ab. Wie muss sich unsere Art zu wirtschaften ändern, um diese Entwicklungen aufzuhalten?

Schulte: Es ist klar, dass der Kapitalismus, wie wir ihn bisher kennen, nicht mehr funktioniert. Unsere westliche Lebensweise geht massiv zu Lasten anderer. Wir kaufen Billig-T-Shirts, die in Asien unter fürchterlichen Bedingungen produziert werden. Unser CO2-Fußabdruck ist viel zu groß. Wir brauchen deshalb einen neuen Weg. Ich glaube nicht, dass die Wirtschaft die nötige sozialökologische Transformation alleine hinbekommt. Eine demokratische Gesellschaft muss in der Lage sein, sich angesichts einer existenziellen Krise neue Regeln zu geben. Eine ökologische Ordnungspolitik ist überfällig. Der großen Koalition fehlt dazu leider der Mut.

Poschardt: Ich glaube, selbst dem bürgerlichsten Liberalen ist mittlerweile klar, dass es so nicht weitergehen kann. Dazu muss man nur einmal morgens im Stau stehen oder abends sehen, was vor dem Supermarkt an Plastik in den Müll gekippt wird. Und auch Unternehmen haben mittlerweile akzeptiert, dass Ökologie und Nachhaltigkeit eher Profitabilität garantieren als gefährden. Im Springer-Konzern haben wir einen neuen, sehr ehrgeizigen Nachhaltigkeitsbeauftragten und wenn unser Neubau von Rem Koolhaas eröffnet wird, wird es auch eine riesige Fahrradgarage geben. Wir selbst sind mitten in einem Prozess, unser Wirtschaften nachhaltiger zu gestalten. Wichtig ist bei dieser Transformation, den Mittelstand und die Industrie mitzunehmen. Wir dürfen niemanden vor den Kopf stoßen. Ich will, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Schulte, weniger Staat und mehr Freiheit.

Porträtfoto von Ulf Poschardt.

Ulf Oliver Poschardt

Jahrgang 1967, ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Seit 2016 ist er Chefredakteur der Welt-Gruppe.

Greta Thunberg ist mit ihren Forderungen Ausdruck einer Sehnsucht, die viele Menschen teilen. Warum wünschen sich so viele radikale Maßnahmen?

Schulte: Greta ist großartig. Diese junge Frau hat es mit immensem Einsatz geschafft, eine weltweite Jugendbewegung für mehr Klimaschutz auf die Beine zu stellen. Da sieht eine Generation den zögernden Politiker*innen nicht länger zu und fordert selbstbewusst das Recht auf eine intakte Welt, auf Zukunft ein. Gut so. Den Aktivist*innen wird ja von liberalkonservativer Seite gerne vorgeworfen, schrecklich moralisch zu sein. Aber im Grunde argumentieren die „Fridays for Future“-Aktivist*innen realpolitisch, pragmatisch und kalt. Sie wollen, dass die Pariser Klimaschutzziele eingehalten werden. Dazu hat sich die Bundesregierung völkerrechtlich verpflichtet, sie kommt nur nicht in die Pötte. Greta Thunbergs Forderungen sind deshalb nicht radikal. Es ist doch eine Minimalanforderung an die Politik, das Überleben der Menschheit zu organisieren.

Poschardt: Das sehe ich etwas anders: Greta ist für mich eine radikale Figur, im besten Sinne. Bewegungen wie „Fridays for Future“ stellen viel grundsätzlichere Fragen, die tiefer gehen als die banalen realpolitischen: danach, wie wir heute Kapitalismus leben wollen. Und ich finde nicht, dass sie kalt sind. Mich erinnern ihr Untergangs- und Paniknarrativ und die Angst, die sie schüren, nämlich dass es bald vorbei sein könnte, ein wenig an die Zeugen Jehovas. Aber diese emotionale Eskalation folgt einem klugen realpolitischen Kalkül: Man muss so ein Geschütz auffahren, da bin ich ganz bei Ihnen, Herr Schulte, um gehört zu werden. Natürlich müssen wir das Pariser Abkommen einhalten. Und jetzt sollte ein Konzept entwickelt werden, wie wir das Land in diesem Sinne modernisieren. Eines ist den Kapitalismus „grüner“ machen…

Schulte: Unsere Marktwirtschaft muss umgebaut werden. Wir brauchen eine sozialökologische Wende – und entschiedene politische Leitplanken. Ich finde es zum Beispiel völlig richtig, die Autokonzerne dazu zu verpflichten, ab einem bestimmten Datum nur noch emmissionsfreie Wagen herzustellen. Der Markt regelt eben nicht alles. Privat vor Staat, diese Ideologie der 90er darf ja längst als widerlegt gelten. Die öffentliche Hand muss in der Daseinsvorsorge wieder stärker werden. Die Wohnungsprivatisierungen in Berlin unter dem rot-roten Senat waren ein riesiger Fehler, wie man heute sieht.

Poschardt: Das klingt mir zu sozialistisch. Dieser Staat bekommt es noch nicht mal hin, einen Flughafen zu bauen. Ich bin für das Gegenteil: Wir müssen mehr privatisieren. Wenn wir den Kapitalismus grüner machen möchten, sind wir deutlich mehr unter Innovationsdruck.

Wie radikal sollte die Politik denn sein?

Schulte: Die große Koalition scheitert dramatisch an den Klimafragen. Auch die Grünen sind nicht radikal genug, weil sie Angst haben, Mehrheiten zu verspielen. Sie fordern zum Beispiel eine CO2-Steuer mit einem Preis von 40 Euro pro Tonne Kohlendioxid. Das Umweltbundesamt sagt, eine Tonne CO2 müsse 180 Euro kosten – und die haben ein bisschen Ahnung von Klimaschutz. Das Narrativ, auf das sich fast alle Parteien verständigen können, lautet: Wir können unser Wohlstandsniveau mit grünem Wachstum halten. Das ist eine bequeme Erzählung, weil sie suggeriert, dass alles bleiben könne, wie es ist –dank neuer Technologien. Kluge Leute wie der Soziologe Harald Welzer nennen das „magisches Denken“. Denn leider zeigt die Erfahrung bisher, dass CO2-Ausstoß und Ressourcenverbrauch trotz großer technologischer Fortschritte ansteigen. Wir alle haben schon vom Rebound-Effekt gehört…

Dass alle Einsparungen, die durch neue grüne Technologien entstehen, wieder in Konsum gesteckt werden?

Schulte: Genau. Ich fände es ja auch wunderbar, wenn grünes Wachstum klimaneutralen Wohlstand für siebeneinhalb Milliarden Menschen möglich machen könnte. Aber ich glaube nicht recht daran. Ohne den Verzicht auf lieb gewonnene Gewohnheiten wird es nicht gehen.

Poschardt: Dass ich jetzt hier die Grünen verteidigen muss, ist ein schweres Schicksal. Lebensweltlich hat Robert Habeck verstanden, was durchsetzbar ist. Es wird zum Wachstum keine Alternative geben, alles andere wäre Deindustrialisierung. Das geht nur mit Rot-Rot-Grün. Für mich heißt das: Wir werden Venezuela.

Porträtfoto von Ulrich Schulte.

Ulrich Schulte

Jahrgang 1974, leitet seit 2011 das taz-Parlamentsbüro. Er schreibt über Bundespolitik mit Schwerpunkt Grüne und SPD.

Muss sich Deutschland von seiner Wachstumsbesessenheit befreien?

Schulte: Ich befinde mich hier in einem intellektuellen Dilemma. Wer im politischen Raum offensiv Verzicht fordert, wird Wahlen verlieren. Einen schnellen Weg, aus der Wachstumslogik herauszukommen, sehe ich deshalb nicht. Aber ich würde mir von den Grünen eine ehrlichere Kommunikation wünschen. Wie zum Beispiel die Fleischproduktion in Deutschland läuft, ist ein Skandal. Natürlich müssten wir weniger Fleisch essen, natürlich müssten Preise steigen, damit Tiere weniger leiden. Bei den Grünen ist jeder Gedanke, dass Verzicht auch etwas Gutes haben könnte, seit dem Veggieday tabu.

Ludwig Erhard schrieb schon 1957, dass wir uns fragen müssen, ob wir immer noch mehr materiellen Wohlstand brauchen, oder „ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen Fortschritt, mehr Freizeit, mehr Besinnung“ zu gewinnen. Warum fällt uns ein Umdenken so schwer?

Schulte: Gesellschaften sind strukturkonservativ, das „Immer mehr“ steckt tief in uns drin – es hat ja auch lange gut funktioniert. Wenn wir beim Beispiel Tierhaltung bleiben, müsste die Politik Zustände thematisieren, die unsere Gesellschaft permanent verdrängt. Das Leiden der zusammengepferchten Schweine, die Qualen, die wir ihnen zumuten. Parteien orientieren sich aber an Mehrheitsfähigkeit. Da sind wir wieder bei der zentralen Diskussion: Wie nimmt man die Menschen mit?

Poschardt: Die Idee der Begrenzung durch beispielsweise eine Verteuerung der Konsumgüter oder Lebensmittel finde ich nicht falsch – das ist etwas ganz anderes als ein Verbot. Aber: Wir haben es nicht geschafft, mehr Radwege zu bauen, wie wollen wir da autofrei werden? Meine liebste Stadt ist Kopenhagen, da kann man radfahren, aber auch autofahren, alles funktioniert. Die Fahrradkeller sehen dort aus wie Museen. Lasst es uns doch zum Wettbewerb der besten Ideen machen, das fände ich als Anreiz gut. Und um zum Fleisch zu kommen: Ich finde es ekelhaft, welche Dimensionen der Fleischkonsum angenommen hat. Das bürgerliche „Zweimal die Woche reicht“ wird wieder modern.

Schulte: Eine ökologischere Politik darf nicht zu Lasten armer Menschen gehen, sondern muss mit sozialen Maßnahmen flankiert werden. Wer einen deutlich höheren Mindestlohn bekommt, kann sich auch das etwas teurere Schnitzel leisten. Auch der Ausgleich innerhalb ökologischer Maßnahmen ist nötig. So ist es etwa richtig, dass die Grünen die Einnahmen aus der CO2-Steuer wieder an die Menschen ausschütten wollen. Die ökologische und die soziale Frage gehört zusammen.

Also brauchen wir auch eine Umverteilung?

Schulte: Klar. Ich halte die hohe Ungleichheit in Deutschland für hochproblematisch. Gesellschaften ohne schroffe Spaltung in Arm und Reich sind gesünder, vitaler und glücklicher. Nichts spricht gegen eine faire Erbschaftsteuer oder eine moderate Vermögensteuer.

Poschardt: Wenn wir nach der Verstaatlichung und den Verboten auch noch eine Umverteilung einleiten, sind wir noch schneller in Venezuela. Das ist der Weg von Rot-Rot-Grün. Wenn wir mit diesem Narrativ in die Diskussion gehen, dann wird die ganze Debatte ein Kulturkampf. Auf den ich mich freue!

Warum sind Sie so gegen Verbote, Herr Poschardt?

Poschardt: Die Verbotsdiskussion wird von Milieus geführt, die von der Freiheit überfordert sind. Ökologie wird als Argument genutzt, anderen Menschen seine Art zu leben überzustülpen. Das finde ich schwierig. Für mich steht Freiheit über allem.

Schulte: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. So hat es Immanuel Kant ausgedrückt. Denken Sie mal an die nächste Generation. Mit unserem aktuellen Ressourcenverbrauch rauben wir ihr Freiheitsräume: Sie dürfen dann nicht mehr über SUVs oder Radwege streiten, sondern müssen mit Millionen Klimaflüchtlingen klarkommen. Es ist doch naiv und am Ende unpolitisch, aus Prinzip gegen Verbote zu wettern. Die ganze Sozialgesetzgebung besteht aus Verboten. Der Mindestlohn verbietet es Unternehmer*innen, ihre Angestellten mies zu bezahlen. So what? Oder nehmen Sie das Rauchverbot. Finden Sie nicht, dass das eine gute Idee war?

Poschardt: Das Rauchverbot ist mir scheißegal. Hier geht es doch um eine große Transformation. Was mich an dem Verbotsfimmel stört, ist vor allem das Menschenbild – als ob Menschen nicht in der Lage seien, mit Freiheit umzugehen. Da passt dann die erpresserische Panikmache zum thematischen Minimalismus, welcher die Komplexität der Ökonomie und die Verdrängung von gesellschaftlichen Kollateralschäden ignoriert. Deutschland ist eine innovations- und wachstumsskeptische Gesellschaft. Wir brauchen mehr Umarmungen von Unternehmer*innen, von Leuten, die etwas riskieren, statt eine Verbotsdiskussion.

Wie können Gesellschaft und Politik gemeinsam die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit in unserem täglichen Leben und Wirtschaften schaffen?

Poschardt: Ich glaube, um alle bei diesem Prozess mitzunehmen, müssen wir akzeptieren, dass wir Menschen alle unterschiedlich sind. Dass den Menschen unterschiedliche Dinge wichtig sind, und dass sie ein unterschiedliches Freiheitsbedürfnis haben. Ich bin aber sehr zuversichtlich: Wer, wenn nicht wir, bekommt das hin.

Schulte: Die Haltung des grünen Spitzenduos gefällt mir ganz gut. Robert Habeck und Annalena Baerbock kommunizieren zugewandt, sie stellen Fragen und vermeiden Besserwisserei. So kann es gehen. Diese Linie spricht ja erkennbar einen progressiven Teil der Mitte an. Ich bin ganz optimistisch: In der Gesellschaft gibt's gerade viel positive Energie. Sie muss jetzt von der Politik fruchtbar gemacht werden.