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Treibhausgasfreiheit statt Treibhausgasneutralität

Was bedeutet es, planetare Grenzen einzuhalten, sich klimagerecht zu verhalten und die Überschreitung von klimatischen Kippunkten abzuwenden? Dieser Debattenbeitrag argumentiert, dass wir eine möglichst CO2-freie Gesellschaft und Wirtschaft brauchen. Klimaneutralität, Treibhausgasneutralität oder Netto-Null-Emissionen bis 2035 können dabei nur Zwischenetappen auf dem Weg zur Freiheit von CO2-Emissionen (Treibhausgasfreiheit) sein.

Im Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm ist richtigerweise folgender Anspruch formuliert:

„Das Wissen um die planetaren Grenzen ist Leitlinie unserer Politik. Denn wenn wir durch unser Handeln die ökologischen Belastungsgrenzen in Bereichen wie Artenvielfalt, Klimaerhitzung oder Meeresversauerung überschreiten, sind die Stabilität unseres Ökosystems und die Lebensgrundlagen der Menschen gefährdet. Alle politischen Entscheidungen müssen daran gemessen werden, ob ihre Folgen mit der Einhaltung der planetaren Grenzen vereinbar sind.“

Aber was bedeutet dieser Maßstab für die Klimapolitik angesichts der Tatsache, dass wir bei der Klimakrise eine planetare Grenze bereits überschritten haben? Dazu muss das Grundsatzprogramm deutlichere Aussagen treffen.

Die Wissenschaftler*innen, die das Konzept der planetaren Grenzen entwickelt haben, sagen: Seit die CO2 Konzentration in der Atmosphäre 350 ppm (parts per million) überschritten hat (der Jahresmittelwert 2018 lag bereits bei 407 ppm), haben wir eine planetare Grenze überschritten und befinden uns in der „Zone der Unsicherheit mit zunehmenden Risiken”. Unbedingt vermeiden müssen wir ein Eintreten in die „Zone der hohen Risiken”, in der das Erdsystem an irreversible Kipppunkte gelangt, die zu einer sich selbst verstärkenden, unkontrollierbaren Erderhitzung führen würden.

Im Pariser Klimaabkommen 2015 haben sich die Staaten völkerrechtlich dazu verpflichtet, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen und Anstrengungen für eine Begrenzung auf 1,5° C zu unternehmen. Der Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) 2018 hat gezeigt, dass mehrere Kipppunkte bereits bei einer Erwärmung um die 2°C drohen und eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C viele dieser Risiken verringern könnte.

Eine Orientierung an den planetaren Grenzen muss für bündnisgrüne Politik deshalb mindestens eine Orientierung der Klimaschutzmaßnahmen am 1,5-Grad-Limit bedeuten mit der Möglichkeit, diese Maßnahmen weiter zu verschärfen, falls neue wissenschaftliche Erkenntnisse dies erforderlich machen sollten.

Treibhausgase nur reduzieren reicht nicht, wir müssen Null erreichen

Um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur zu stoppen, muss der Anstieg der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre gestoppt werden. Das heißt: Wir dürfen nur noch eine begrenzte Menge an CO2 (das verbleibende CO2-Budget) in die Atmosphäre entlassen und müssen schnell die CO2-Emissionen auf Null zurückführen, auch die Emissionen anderer Treibhausgase müssen drastisch sinken. Dieser Zusammenhang gilt für alle Begrenzungen des Temperaturanstiegs, egal ob auf 1,5, 2, 3 oder mehr Grad. Auch völkerrechtlich ist dies in Artikel 4.1 des Pariser Klimaabkommens verankert, der das Ziel formuliert, ein Gleichgewicht zwischen Treibhausgasemissionen in die und Treibhausgasentnahmen aus der Atmosphäre zu erreichen – also Netto-Null-Treibhausgasemissionen. Für eine Begrenzung auf 1,5 Grad müssen laut IPCC die globalen CO2-Emissionen sehr schnell reduziert werden, bis 2030 um die Hälfte, und dann zwischen 2045 und 2055 Netto-Null erreichen. Eine schnellere Absenkung erhöht hierbei die Wahrscheinlichkeit, 1,5 °C nicht zu überschreiten.

Der IPCC berechnet nur globale Budgets, nicht ihre Verteilung auf einzelne Staaten. Berücksichtigt man die hohen historischen und aktuellen Pro-Kopf-Emissionen sowie die hohe wirtschaftliche und technologische Leistungsfähigkeit Deutschlands, ist klar, dass Deutschland wie auch andere Industrieländer aus Gründen der Klimagerechtigkeit schneller reduzieren und früher CO2-Emissionsfreiheit erreichen muss als die Welt insgesamt. Wenn man historische Emissionen berücksichtigt und ein starkes Gerechtigkeitsverständnis anlegt, hätten Deutschlands Emissionen bereits vor Jahren Null erreichen müssen. Nach anderen Berechnungsweisen würden Nullemissionen etwa um 2030 noch einem 1,5°C-kompatiblen Pfad für Deutschland entsprechen. Seiner historischen Verantwortung muss Deutschland zusätzlich auch durch erhöhte finanzielle Hilfen für Klimaschutz in Ländern des globalen Südens gerecht werden. Wenn Deutschland 2035 Netto-Null-Emissionen erreicht, aus unserer Sicht der späteste Zeitpunkt, der noch mit den planetaren Grenzen kompatibel ist, muss es entsprechend mehr Unterstützung für Klimaschutz in anderen Ländern leisten, die dann ihr CO2-Budget nicht ausschöpfen müssten, sodass insgesamt das globale Budget eingehalten werden kann.

Die durch Menschen verursachten Treibhausgasemissionen müssen weltweit so weit wie möglich reduziert und alle dann noch verbleibenden Emissionen durch natürliche und künstliche Senken (Negativemissionen) wieder aus der Atmosphäre entfernt werden. Damit wäre die Menschheit klimaneutral und die globale Temperatur würde sich stabilisieren (sofern nicht bereits Kipppunkte ausgelöst wurden, die zu sich selbst verstärkender Erhitzung führen). Dabei gilt: Je länger es dauert, bis die Emissionen sinken, desto höhere Negativemissionen (also mehr CO2-Entnahme) wären zum Ausgleich erforderlich.

Entscheidend für die Begrenzung der Klimakrise ist, dass die Netto-Emissionen auf Null reduziert werden müssen - je schneller, desto besser. Für Deutschland sind Netto-Null-Emissionen 2035 aus Sicht der Achtung der planetaren Grenzen und der Klimagerechtigkeit der späteste akzeptable Zeitpunkt. Dazu sollte sich das Grundsatzprogramm bekennen, denn der dafür nötige tiefgreifenden gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel wird in den etwa 15 Jahren zu organisieren sein, in denen das Grundsatzprogramm bündnisgrüne Politik leiten soll.

Vorsicht vor allzu großer Hoffnung in Negativemissionen

Im Modell kann man fortgesetzte Emissionen mit Negativemissionen verrechnen, aber in der Realität sind daran Zweifel angebracht. Denn das Potential an akzeptablen und realistisch verfügbaren Negativemissionen ist sehr begrenzt.

Es werden verschiedene Wege diskutiert, Negativemissionen zu erreichen oder auf anderem Wege die Erwärmung trotz erhöhter Treibhausgaskonzentration einzuschränken. Solche Geoengineering-Ansätze werden meist in zwei Gruppen eingeteilt: Ansätze, die den Strahlungshaushalt beeinflussen (Solar Radiation Management - SRM) oder solche, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen (Carbon Dioxide Removal - CDR).

Für uns Grüne ist klar: Wir lehnen jegliche Ansätze des Solar Radiation Management ab - hierbei handelt es sich um nicht erprobte Technologien, deren Risiken nicht abschätzbar sind und die auch zu kriegerischen Zwecken zu missbrauchen wären. Carbon Dioxide Removal lehnen wir nicht grundsätzlich ab, aber wir prüfen jeden Ansatz des CDR auf Grundlage unserer Werte. Neben den im Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm genannten (Vorsorgeprinzip und Prinzip der Umkehrbarkeit) gehören dazu: Achtung der Menschenrechte, Ernährungssicherheit, Ausschluss von anderen inakzeptablen ökologischen oder sozialen Risiken. Folgendes ist für die einzelnen Ansätze zu bedenken:

  • Nachhaltige Landnutzung: Gut geeignet und ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig sind Maßnahmen einer nachhaltigen Landnutzung, wie bodenschonende und humusmehrende Landbewirtschaftung, Moorschutz und Renaturierung, Grünlanderhalt und Wiederaufforstung.
  • Aufforstungen: Aufforstungen sind eine Strategie, um CO2-Senken zu schaffen. Aufforstungen können wir aber nur unterstützen, wenn es sich um naturnahe Wälder handelt, nicht um Holzplantagen mit negativen Auswirkungen auf die Biodiversität. Auch muss sichergestellt werden, dass insbesondere im globalen Süden Indigene oder Kleinbäuer*innen für Aufforstungsprojekte nicht von ihrem Land vertrieben werden.
  • (BE)CCS und (BE)CCU: Bei Carbon Capture and Storage bzw. Carbon Capture and Utilization wird CO2 aus den Abgasen von Kraftwerken oder Industrieprozessen abgeschieden und dann in geologischen Formationen oder festen Carbonaten eingelagert (CCS) oder für andere Produkte verwendet (CCU). Bei der Einlagerung in geologischen Formationen bestehen Risiken durch die unterirdische Speicherung von CO2, je nach Standort zum Beispiel Versauerung des Grundwassers oder Auslösung seismischer Aktivitäten. CCU hingegen könnte für schwer vermeidbare Emissionen aus der Industrie interessant sein und die dabei entstehenden Produkte (z.B. Carbonfasern) andere emissionsintensive Stoffe (z.B. Stahl) ersetzen. Bislang sind allerdings weder CCS noch CCU wirtschaftlich zu betreiben und würden weiterer Forschung bedürfen. Weil dabei kein bereits in der Atmosphäre vorhandenes CO2 entnommen wird, handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um Negativemissionstechnologien. Es ist aber denkbar, CCS oder CCU mit Bioenergie zu kombinieren (BECCS bzw. BECCU), d.h. Biomasse anzubauen, zur Energiegewinnung zu verbrennen und die entstehenden CO2-Emissionen einzulagern bzw. zu nutzen. Neben den bekannten Risiken von CCS kommen hier weitere Risiken dazu durch Flächenkonkurrenz zum Anbau von Nahrungsmitteln und negative Auswirkungen von Biomasse-Plantagen auf Ökosysteme, Wasserhaushalt und Boden und Wasserqualität. BECCS ist daher sehr kritisch zu sehen und wird auf keinen Fall in dem Ausmaß angewendet werden können, wie es in vielen Klimaszenarien eingerechnet wird.
  • Direct air capture: Es wird daran geforscht, CO2 direkt aus der Luft zu entnehmen. Dies würden wir befürworten, es muss sich aber noch bewähren und ist noch sehr teuer. Es muss dann einen Verwendung für das CO2 gefunden werden, sonst stellen sich dieselben Risiken bei der Einlagerung wie bei CCS.
  • Andere CDR-Maßnahmen wie Ozeandüngung: Das Umweltbundesamt warnt davor, auf zum Teil unerforschte und unerprobte CO2-Entnahmetechnologien und anschließende Speicherung zu setzen. Nach dem heutigen Wissensstand bergen die meisten CO2-Entnahmetechnologien Risiken für Umwelt und nachhaltige Entwicklung: Bei der Düngung von Ozeanen etwa, um CO2-bindende Algen zu fördern, könnten die Meeresökosysteme durch Überdüngung geschädigt werden.

Eine ausreichend finanzierte Forschung an den CDR-Ansätzen ist zentral nicht nur, um die Technologie und mögliche Potentiale zu untersuchen, sondern auch, um die Risiken zu verstehen und kluge Entscheidungen über die Anwendungen treffen zu können.

Allen diskutierten Ansätzen für Negativemissionen ist eins gemein: Sie bergen Risiken für Mensch und Umwelt. Daher müssen wir sorgfältig abwägen, ob solche Ansätze zum Einsatz kommen sollen; dafür müssen wir sie an Kriterien messen, die sich aus unseren Grünen Werten ableiten. Viele dieser Ansätze sind noch nicht erprobt und es bleibt unklar, wann und in welchem Umfang sie zum Einsatz kommen könnten.

CO2-Freiheit, um Bedarf an Negativemissionen so niedrig wie möglich zu halten

Im Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm ist formuliert:

„Die ökologischen Krisen zu bewältigen, ist eine so drängende Aufgabe, dass keine Lösung von vornherein ausgeschlossen werden darf. (...) Gleichzeitig entbindet die Dringlichkeit der ökologischen Krisen uns nicht davon, genau hinzuschauen und mögliche Risiken und Konsequenzen im Blick zu haben (...). Wir werden alle Optionen am Vorsorgeprinzip und dem Prinzip der Umkehrbarkeit messen: Was kurzfristig hilfreich erscheint, ist untauglich, wenn es in der Folge neue Probleme schafft.”

Folglich lehnen wir als Leitlinie für unsere Politik Ansätze ab, die darauf spekulieren, dass zu viel emittierte Treibhausgase in der Zukunft durch negative Emissionen zurückgeholt werden können. Solche Overshoot-Szenarien gehen davon aus, dass das Treibhausgasbudget und das Temperaturziel zeitweise überschritten werden, dann aber bis Ende des Jahrhunderts durch Negativemissionen zurückgeführt werden. Das ist fahrlässig, weil erstens die meisten „Negativemissionstechnologien“ bislang nicht zur Verfügung stehen und zweitens dann möglicherweise Kipppunkte bereits überschritten und katastrophale Konsequenzen bereits eingetreten sind. Diese können nicht einfach rückgängig gemacht werden, indem Treibhausgase wieder aus der Atmosphäre entnommen werden.

Selbst die IPCC-Szenarien, die auf Overshoot verzichten und lediglich natürliche Negativemissionen (in erster Linie Wiederaufforstung) zulassen, zeigen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im globalen Saldo leicht negative Emissionen. Dazu muss Deutschland mit Netto-Negativemissionen beitragen. Das ist ein weiterer Grund, dieses Potential nicht zur Aufrechnung gegen fortgesetzte fossile Emissionen zu nutzen, sondern die CO2-Emissionen tatsächlich auf Null zu senken und die natürlichen Senken zusätzlich auszubauen.

In der politischen Diskussion werden Negativemissionen oft nur deshalb propagiert, um ein größeres Zeitfenster zum Umsteuern zu suggerieren oder eine Legitimation für die weitere Nutzung fossiler Energiequellen zu bilden. Solange klimapolitische Zielsetzungen nicht auf dem Ziel der CO2-Emissionsfreiheit basieren, sondern in relevantem Umfang zum Instrument einer Kompensation für erfolgte Emissionen greifen wollen, dienen sie aber eher der Verzögerung notwendiger Entwicklungen emissionsfreier Technologien und Prozesse, als dass sie der rechtzeitigen Erreichung einer CO2-freien Welt dienen. Diese Verzögerungstaktik bekämpft nicht die Ursachen der Klimakrise, weil sie den dringend erforderlichen sozial-ökologischen Strukturwandel der Gesellschaft weg von treibhausgasintensiven, auf fossilen Brennstoffen beruhenden Konsummustern und Produktionsweisen bremst.

Die Begriffe „Netto-Null-Emissionen“, „Treibhausgasneutralität“ oder „Klimaneutralität“ lassen aber genau diese Verzögerungstaktik zu. Deshalb müssen wir präzise formulieren, was unser Ziel ist: tatsächliche Nullemissionen, nicht Netto-Null-Emissionen, nicht nur CO2-Neutralität, sondern CO2-Freiheit.

Das bedeutet, dass alle CO2-Emissionen aus Stromerzeugung, Verkehr und Gebäuden vollständig auf Null reduziert werden müssen. Grundsätzlich gilt dies auch für die Emissionen aus der Industrie. Hier gibt es allerdings Prozesse, bei denen Treibhausgase entstehen, und die bisher noch als schwierig zu ersetzen gelten. Hier macht unser Ziel Treibhausgasfreiheit statt Treibhausgasneutralität einen großen Unterschied: Statt auf Kompensation zu spekulieren, müssen wir auch für auch alle industriellen Prozesse mittelfristig anstreben, sie CO2-emissionsfrei zu gestalten oder Alternativen für diese Prozesse und die produzierten Stoffe zu finden. Sollten trotz aller Anstrengungen immer noch Emissionen aus industriellen Prozessen, die unvermeidbar und alternativlos sind, entstehen, müssen sie durch Negativemissionen ausgeglichen werden. Dasselbe gilt für Emissionen aus der Landnutzung.

Hinter Begriffen wie „Netto-Null-Emissionen“, „Treibhausgasneutralität“ oder „Klimaneutralität“ verbirgt sich oft eine Verzögerungstaktik, die suggeriert, fortgesetzte Emissionen könnten mit Negativemissionen anderswo verrechnet werden. Aber dafür ist das begrenzte Potential an akzeptablen, tatsächlich verfügbaren Negativemissionen viel zu begrenzt und kostbar.

Treibhausgasneutralität kann eine Zwischenetappe auf dem Weg zu null CO2-Emissionen sein, aber sollte für Grüne kein finales Ziel der klimapolitischen Maßnahmen sein. Unser Grundsatzprogramm sollte stattdessen als Ziel formulieren, dass wir eine CO2-freie Gesellschaft und Wirtschaft erreichen wollen.


Dieser Debattenbeitrag zum Grundsatzprogramm wurde von der BAG Energie beschlossen am 26.01.2020 in Berlin.

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