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Sachzwang Wachstum: Politische Herausforderung statt fraglose Akzeptanz

Ein Debattenbeitrag von André Rathfelder zur grüner Wirtschaftspolitik.

Der Zwischenentwurf zum Grundsatzprogramm beschreibt zentrale Elemente Grüner Wirtschaftspolitik, lässt aber einen wichtigen Baustein unberücksichtigt: den Abbau der Wachstumsabhängigkeit unseres Wirtschafts- und Sozialsystems. Diese Leerstelle, so wird hier argumentiert, folgt aus einer vorschnellen Unterordnung unter einen Sachzwang Wachstum, nach dem unser Gesellschaftssystem funktional von stetigem Wirtschaftswachstum abhängt. Stattdessen sollte Grüne Wirtschaftspolitik diesen Sachzwang als politische Herausforderung begreifen und sich mit Maßnahmen zu dessen Einhegung beschäftigen.

Fraglose Akzeptanz des Sachzwangs Wachstum

Der Zwischenentwurf verschreibt sich in der Wirtschaftspolitik einer Strategie des „qualitativen Wachstums“. Dieses qualitative Wachstum soll das „blinde Wachstum“ ersetzen und eine doppelte Entkopplung ermöglichen: die Entkopplung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch sowie die Entkopplung von Lebensqualität und Wegwerfgesellschaft. Dieser zweiten Entkopplung dient ein neuer, umfassender Wohlstandsindikator, der „ökologische, soziale und qualitative Merkmale“ unseres Wohlstands erfasst (Zwischenentwurf, S. 26). Wohlstand soll anders gemessen werden und ein verändertes Wohlstands- und Wachstumsverständnis etablieren. Soweit, so richtig.

Zur kritischen Prüfung regt indes die erste intendierte Entkopplung an bzw. wie diese im Zwischenentwurf begründet wird. „Unser Ziel ist […] Wachstum vom Ressourcenverbrauch […] zu entkoppeln“ (ebd.). Übersetzt bedeutet dies, dass weiteres Wachstum nicht mit einem steigenden Ressourcenverbrauch einher gehen soll. An dieser Stelle ist mit Blick auf die in den Zeilen zuvor erfolgte Begründung offensichtlich wirtschaftliches Wachstum gemeint. Demnach ist unser „heutiges Wirtschafts- und Sozialsystem […] darauf angewiesen, dass die Wirtschaft stetig wächst“, da andernfalls Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit sowie eine Schieflage von Staatshaushalt und Sozialversicherungen drohen (ebd.). Damit wird wirtschaftliches Wachstum als Ziel Grüner Wirtschaftspolitik ausgegeben. Begründet wird dieses Ziel mit der funktionalen Abhängigkeit des Wirtschafts- und Sozialsystems von stetigem Wachstum.

Mit dieser Begründung beschreibt der Zwischenentwurf einen Sachzwang Wachstum, der in der Tat besteht. Die derzeitigen sozialen Sicherungssysteme sind nur durch Wachstum aufrecht zu erhalten. Bei einer ständig steigenden Arbeitsproduktivität ist Wachstum die Voraussetzung dafür, dass die Arbeitslosigkeit nicht steigt. Die Zinslast der Staatsverschuldung ist derzeit ohne Wirtschaftswachstum schwer zu bestreiten. Das derzeitige System der Geldschöpfung begründet einen marktwirtschaftlichenWachstumszwang. Kurz: Ein stetiges Wirtschaftswachstum ist heute für die Stabilität des Wirtschafts und Sozialsystems unerlässlich.

Zu diskutieren ist jedoch, ob sich Grüne Wirtschaftspolitik diesem Sachzwang fraglos unterordnen oder diesen nicht vielmehr als zentrale politische Herausforderung begreifen sollte. Eine eben solcheUnterordnung klingt im Zwischenentwurf an, wenn weiteres Wachstum als Grundvoraussetzung für die Funktion von Wirtschaft und Sozialstaat auch für die Zukunft fraglos hingenommen wird. Dann kann sich Grüne Wirtschaftspolitik nur damit beschäftigen, das zwingend erforderliche stetige Wirtschaftswachstum ökologischer zu gestalten bzw. vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln.

Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch: Eine Glaubensfrage

Zunächst noch eine Anmerkung zur Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch. Eine eingehendere Beschäftigung mit dieser seit den 1970er-Jahren virulenten „Gretchenfrage“ der Wachstumskontroverse macht deutlich, dass es sich dabei letztlich um eine Glaubensfrage handelt. Ob, welches und wie viel weiteres Wirtschaftswachstum innerhalb der planetarischen Grenzen machbar ist, ist wissenschaftlich nicht entscheidbar und hängt von der jeweiligen Einschätzung der technischen und sozialen Innovationspotenziale ab. Ist das (durch politische Rahmensetzung zu induzierende) Innovationspotenzial so groß, dass die Effizienzgewinne mit Blick auf Ressourcenverbrauch und Emissionen die durch weiteres Wirtschaftswachstum hervorgerufenen Rebound-Effekte überwiegen und so zu absoluten Verbrauchssenkungen bzw. Emissionsreduktionen um 80-100% führen können (Beispiel CO2)? Die Wachstumsrate der Ressourcenproduktivität bzw. im Beispiel die Schrumpfungsrate der CO2- Intensität müsste also die Rate des Wirtschaftswachstums deutlich übertreffen. Oder ist im Angesicht der enormen Reduktionserfordernisse und der omnipräsenten Rebound-Effekte ein „Abschied vom Wachstumszwang“ erforderlich (Reinhard Loske)?

Uns Grünen steht eine optimistische Haltung zur Innovationskapazität von Wirtschaft und Gesellschaft sicher gut zu Gesicht. Diese kommt im Zwischenentwurf, beispielsweise im Unterkapitel „Technologie als Lösung“, auch gut zum Ausdruck (Zwischenentwurf, S. 27). Eine solche optimistische Haltung bedeutet aber nicht, ein stetig wachsendes BIP als Sachzwang zu akzeptieren, da dies im potenziellen Widerspruch zu den eigentlichen Zielen Grüner Wirtschaftspolitik steht. Dazu im Folgenden.

Vom Kopf auf die Füße: Ziele Grüner Wirtschaftspolitik

Das übergeordnete Ziel Grüner Wirtschaftspolitik ist eine ökologische und sozialverträgliche Wirtschaftsentwicklung. Das bedeutet aus ökologischer Perspektive, wie im Zwischenentwurf beschrieben, ein Verbleiben innerhalb der planetaren Grenzen durch die nachhaltige Gestaltung aller wirtschaftlicher Produktion (Zwischenentwurf, S. 25). Dazu ist eine ökologische Ordnungspolitik erforderlich, welche die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen so umstellt, dass die umwelt- und klimafreundlichere Alternative auch immer die günstigste Alternative ist (Zwischenentwurf, S. 29). Die maßgeblichen Hebel für das Anstoßen der „Effizienzrevolution“ sind im Entwurf benannt: Green NewDeal, Einpreisung ökologischer Folgekosten, Technologieförderung etc.

Ein konsequent aufgebauter ökologischer Ordnungsrahmen für die Marktwirtschaft wird dazu führen, dass einige Wirtschaftsbereiche wachsen (z.B. erneuerbare Energien, ökologische Landwirtschaft, ressourceneffiziente Technik) und andere schrumpfen (z.B. konventionelle Energiewirtschaft, Verpackungsindustrie, Pflanzenschutzmittelindustrie). Entscheidend ist nun, dass nicht vorherzusehen ist, welche Auswirkungen eine solche ökologische Wirtschaftsentwicklung letztendlich auf das BIP hat. Es kann und darf wachsen, sollte es aber nicht müssen. Aus dieser Perspektive kann das BIP nicht selbst Zielgröße, sondern lediglich das Resultat eines ökologisch- und sozialverträglichen Wirtschaftsprozesses sein. Eine Unterordnung unter den Sachzwang Wachstum kehrt Grüne Prioritäten um: Die Grundbedingung ist Wachstum, unter deren Berücksichtigung möglichst viel ökologische Nachhaltigkeit realisiert werden soll. Andersherum wird ein Schuh draus: Ökologische Nachhaltigkeit ist die Grundbedingung, unter deren Berücksichtigung eine möglichst vitale Wirtschaft anzustreben ist. Damit ist aber für Grüne Politik die Herausforderung beschrieben, das Wirtschafts- und Sozialsystem unabhängiger von einem stetigen Wirtschaftswachstum zu gestalten.

Emanzipation vom Sachzwang Wachstum

Eine solche Perspektive der Emanzipation vom Sachzwang Wachstum rückt grundlegende Strukturen unseres Wirtschafts- und Sozialsystems in den Fokus: Wie könnte ein Sozialversicherungssystem aussehen, das unabhängiger von bestimmten Wachstumsraten ist? Welche veränderten Lebens- Arbeitsmodelle könnten hilfreich sein, sodass ausbleibendes Wachstum nicht zu höherer Arbeitslosigkeit führt (z.B. Verlagerung des Rationalisierungsdrucks vom Faktor Arbeit auf den Faktor Ressourcen, Arbeitszeitverkürzungen)? Kann eine Reform des Geldwesens den strukturellen Wachstumszwang der Marktwirtschaft mildern? Kann eine stärkere Regulierung bzw. Besteuerung von Werbung omnipräsente Kommerzialisierungstendenzen einhegen? Über diesen Betrachtungen steht eine weitere Frage, mit der sich Grüne beschäftigen müssen: Wie kann sich ein im eisigen Wind des globalisierten Wettbewerb stehendes Land überhaupt vom Ziel eines möglichst hohen Wirtschaftswachstumes emanzipieren, ohne wirtschaftlich unter die Räder zu kommen?

Grüne Wirtschaftspolitik darf sich nicht vorschnell einem Sachzwang Wachstum unterordnen, sondern sollte die Bearbeitung der Wachstumsabhängigkeit unseres Sozial- und Wirtschaftssystems als politische Aufgabe begreifen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, sich ein sinkendes BIP als Ziel auf die Fahnen zu schreiben oder einen pauschalen Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Ökologie aus der Mottenkiste zu holen. Es bedeutet, sich in Anbetracht unserer eigenen Prioritäten von der Zielgröße Wirtschaftswachstum unabhängiger zu machen. Ja, Grüne Wirtschaftspolitik will die schnellstmögliche Erschließung von Effizienzpotenzialen durch eine „Grüne Revolution“ (Ralf Fücks). Sie will die
Effizienzrevolution politisch mit aller Kraft vorantreiben, um eine leistungsfähige Wirtschaft bei deutlich verringertem Umweltverbrauch zu realisieren. Dies geht sie mit dem Optimismus an, der im Entwurf zum Grundsatzprogramm zum Ausdruck kommt. Nur sollte sich Grüne Politik nicht ausschließlich auf das Allheilmittel der Effizienzsteigerung verlassen, sondern die Unabhängigkeit von ständigem Wirtschaftswachstum als Ziel im Blick haben. Das Nachdenken über Grüne Wirtschaftspolitik muss sich unbedingt auch auf Fragen der Arbeitszeitpolitik, einer wachstumsunabhängigen Finanzierung der Sozialsysteme, anderer Formen der Geldschöpfung, wachstumsunabhängiger Unternehmensformen etc. richten. Die „Grüne Revolution“ (Fücks) und der „Abschied vom Wachstumszwang“ (Loske) stehen nicht im Widerstreit, sondern können als Komplementäre eine ganzheitlichere Grüne Wirtschaftspolitik beschreiben.

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