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Ozonloch, Klimawandel, planetare Grenzen – die Ökologie in grünen Grundsatzprogrammen

Porträtfoto eines Mannes.

Alexander von Humboldt zeigte uns, dass der Orinoco, die Donau und der Klimawandel etwas miteinander zu tun haben. Wir Grüne politisierten diese Erkenntnis. Doch bis heute ist die Umweltdebatte vom Denken vor Humboldts Zeit geprägt. Es ist Zeit für eine neue Betrachtung, schreibt Michael Kellner in seinem Debattenbeitrag.

Alexander von Humboldt zeigte uns, dass der Orinoco, die Donau und der Klimawandel etwas miteinander zu tun haben. Wir Grüne politisierten diese Erkenntnis. Doch bis heute ist die Umweltdebatte vom Denken vor Humboldts Zeit geprägt. Es ist Zeit für eine neue Betrachtung.

Humboldts Reisen verdanken wir die entscheidende Erkenntnis, dass die Umwelt ein ganzheitliches System im globalen Zusammenhang ist. Mit dieser Erkenntnis steht er am Anfang ökologischen Denkens der Neuzeit und er stellt sie gegen das bis dahin geläufige Verständnis, die Natur sei ein quasi mechanisches System, in dem kaputte Teile einfach wieder repariert oder ersetzt werden könnten. Doch genau dieselbe Auseinandersetzung wie sie vor über 200 Jahren schon Humboldt führen musste, ist heute immer noch aktuell. Um dies besser zu verstehen, hilft der Blick in die grünen Grundsatzprogramme von 1980, 1993 und 2002.

Wenig überraschend ist der Begriff der Ökologie in allen drei grünen Programmen sehr präsent. Interessanterweise gibt es drei Grundideen des Ökologiebegriffs in allen Grundsatzprogrammen, nach denen sich unsere Vorstellung von Ökologie analysieren lässt.

Erstens: Die humboldtsche Idee Umwelt nicht nur als Natur, sondern ganzheitlich zu betrachten, zieht sich durch alle Programme. In allen grünen Programmen geht es deshalb darum, wie wir leben wollen. Für Grüne ist die ökologische Frage also immer verknüpft mit der sozialen und der ökonomischen, weil Ökologie eben kein mechanisch abgetrennter Bereich von Gesellschaft ist.

Zweitens: In allen drei Grundsatzprogrammen denken wir ökologische Politik nicht nur räumlich, sondern immer auch zeitlich. Mit ökologischer Politik stehen wir immer in der Verantwortung für die jetzige und die kommenden Generationen. Wir haben eben die Erde nur von unseren Kindern geborgt.

Drittens: Die Vorstellung der Ökologie ist immer mit der Idee der Selbstbestimmung verknüpft, weil die ökologische Krise eine Gefahr für ein selbstbestimmtes Leben des Menschen ist.

Unsere Parteigeschichte und die Entwicklung unserer Programmatik sind zugleich ein Spiegel der gesellschaftlichen Debatte über Ökologie.

Im ersten Programm von 1980 steht die ökologische Katastrophe durch Industrien, welche die Umwelt verschmutzen, sowie Risikotechnologien wie die Atomkraft, welche die gesamte Menschheit auslöschen können, im Zentrum. Die konkreten Bedrohungen waren damals das Ozonloch, die Verschmutzung der Gewässer und abgeholzte oder durch sauren Regen sterbende Wälder. Die Aufmerksamkeit für diese Bedrohungen erreichte Ende der 80er Jahre, dass Politik sich ihren annahm und handelte: Flüsse wurden wieder sauberer, der Himmel wieder Blau und die irrwitzigen Ausbaupläne der Atomkraft wurden gestoppt, auch wenn der Atomausstieg noch 20 Jahre auf sich warten ließ. Doch die Gesellschaft verabschiedete sich endgültig von übertriebenen Ideen aus den 1950er und 60er Jahren, als man zum Beispiel Autos mit einem Teelöffel Atomenergie betreiben wollte.

Im grünen Grundkonsens von 1993 tauchte der Begriff „Klima“ erstmalig als Klimaschutz auf. Doch zentral waren immer noch das Ozonloch, die Abholzung der Wälder und die Endlichkeit natürlicher Ressourcen.

Im Grundsatzprogramm von 2002 rückten die globalen Klimaveränderungen ins Zentrum grüner ökologischer Politik. Zugleich strahlt das Programm eine optimistische Haltung aus. Wir konnten schließlich erste grüne Erfolge innerhalb der rot-grünen Bundesregierung erreichen. Wir konnten den Atomausstieg durchsetzen. Der Schutz der Ozonschicht und saubere Energien waren plötzlich eine sehr realistische Zukunftsvision. Auch die internationalen Prozesse zum Schutz des Klimas gingen voran, zwar mühsam, aber sichtbar mit dem Kyoto-Protokoll.

Für unser kommendes Grundsatzprogramm, stellen sich neue Herausforderungen. Es ist bis heute nicht gelungen, die Klimakrise in den Griff zu bekommen. Wir können sie nicht mehr verhindern, aber die schlimmsten Auswirkungen noch abwenden. Humboldts Denken, die Umwelt im globalen Zusammenhang zu betrachten, wird durch die aktuellsten Erkenntnisse mit neuer Wucht belegt.

Denn wir sind heute nicht nur mit der Klimakrise konfrontiert, sondern erleben auch einen rapiden Verlust an Artenvielfalt. Obwohl wir Grüne den Tierschutz und die ökologische Landwirtschaft vorangebracht haben, ist der aktuelle Verlust an Artenvielfalt in seiner aktuellen Dramatik ein neues Phänomen. Zum einen verstärkt die Klimakrise das Artensterben, zum anderen – und viel entscheidender – sind jedoch die intensive Landwirtschaft, die Verstädterung und die Vergiftung von Lebensräumen durch Pestizide, Plastik oder fossile Energien ursächlich für die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten.

Die Folgen davon sind für uns nicht abschätzbar. Es lässt sich schlicht nicht vorhersagen, was mit dem Netz des Lebens passiert, wenn sich immer mehr Maschen aufdröseln. Das mechanische Denken, man könne eine kaputte Natur einfach wieder herstellen, hat keine Antwort auf diese Krisen.

Und genauso, wie wir 1980, 1993 und 2002 Vorreiter waren und wissenschaftliche Erkenntnisse in unsere Programmatik aufgenommen haben, sollten wir das Konzept der planetaren Grenzen zu unserer neuen ökologischen Leitmaxime machen.

Die planetaren Grenzen bilden den Belastungsspielraum des Planeten ab. Werden sie erreicht, besteht die Gefahr irreversibler Schäden an der Natur und somit an den Lebensgrundlagen der Menschen. Sie beschränken den sicheren Handlungsspielraum für den Menschen. Von den insgesamt neun planetaren Grenzen sind heute bereits in vier die Belastungsgrenzen global überschritten: beim Klima, der Artenvielfalt, der Landnutzung und den biogeochemischen Prozessen (Phosphor- und Stickstockkreislauf).

Angesichts dieser Situation muss ökologische Politik heute das gesamte Ökosystem in den Blick nehmen und nicht nur einzelne Teile. Sie muss alle planetaren Grenzen im Handeln berücksichtigen.

Doch die gesellschaftliche Diskussion über Ökologie ist so aufgeheizt wie nie. Noch bis zur Bundestagswahl im Jahr 2017 hieß es, die Grünen haben sich zu Tode gesiegt. Diese Zeit ist längst vorbei. Die politische Streitlinie verläuft heute wieder zwischen denjenigen, die unbedingt an einer Politik ohne ökologischen Bewusstsein festhalten wollen und denjenigen, die Ökologie als Menschheitsaufgabe sehen und deshalb den Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen politisch gestalten wollen.

Anti-Ökologie ist zu einer neuen Identitätsfrage und zur Ideologie für Neoliberale und Rechte geworden. Es gibt ein anti-ökologisches Ressentiment gegen all jene, die sich für Ökologie und Klimaschutz einsetzen, gegen „die Fahrradfahrer“ und „die Vegetarierinnen“. Dagegen steht eine breite gesellschaftliche Allianz von ökologisch engagierten Menschen. Eine neue Klimabewegung, wie die Schüler*innen von Fridays for Future oder auch die Anti-Kohle-Bewegung. Es gibt immer mehr Unternehmer*innen, die ökologische Technologien entwickeln und damit die Zukunft gestalten. Und in unseren Städten sprießen lokale Klimaschutzprojekte aus dem Boden.

Doch klar ist auch: Eine Partei oder eine Generation allein kann das Klima und die Artenvielfalt nicht retten. Wir brauchen dafür Partner*innen, auch über unser eigenes Milieu hinaus. Deswegen definieren wir uns als Bündnispartei, alle sind eingeladen mitzuarbeiten für eine lebenswerte Welt von morgen.

MICHAEL KELLNER ist seit 2013 Politischer Bundesgeschäftsführer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Neben der Außen- und Europapolitik hat er ein besonderes Interesse daran, die lebendige demokratische Kultur der Partei zu pflegen und mit neuen Ideen zu bereichern.

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