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Klimapolitik – Vision, Herausforderung und Fundament

Wie stellen wir uns ein klimaneutrales Deutschland vor? Welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen braucht es; kurzfristig, mittelfristig, langfristig? Welche Instrumente wollen wir nutzen – und mit welcher Begründung? Ein Debattenbeitrag von Lisa Badum, Georg Kössler und Jutta Paulus.

1. Die Vision

Deutschland im Jahr 2040 ist klimaneutral. Die noch vorhandenen CO2-Emissionen aus der Landwirtschaft und der Industrie werden durch inländische Kohlenstoffsenken wie Moore, Dauergrünland und Naturwälder kompensiert. Importe werden auf die CO2-Bilanz angerechnet und entsprechende Kompensationsmaßnahmen im Entstehungsland durchgeführt.

Die Energie für Wohnen, Mobilität, Gewerbe und Industrie wird überwiegend durch Wind und Solar gewonnen oder durch weitere emissionsfreie Energieerzeugung wie Geothermie, Wasserkraft und nachhaltige Biomasse, vorwiegend aus Reststoffen.

Alle Gebäude sind weitestgehend energetisch modernisiert oder nach dem Niedrigstenergiestandard errichtet worden und werden mittels Photovoltaik auch zur Energieerzeugung genutzt. Als Baustoffe kommen nur noch nachhaltige Rohstoffe wie Carbonbeton, Hanf oder Holz zum Einsatz. Wohnungen und Häuser sind an den Bedürfnissen der Nutzer*innen ausgerichtet und schaffen mit viel Grün und Gemeinschaftsbereichen ein lebenswertes Umfeld.

Der Verkehrsbereich ist weitgehend dekarbonisiert. Wohnortnahe Versorgung und die Umsetzung der Stadt der kleinen Wege, schnelles Internet und die Rückkehr der Dorfläden ermöglichen den Alltag ohne Auto. Die Schiene hat die Straße als Hauptverkehrsmittel überholt: alle Metropolen sind durch Hochgeschwindigkeitszüge verbunden, durch geschickte Taktung sind kurze Fahrten und verlässliche Umstiege gewährleistet. Der elektrische ÖPNV in Städten und in der Fläche ist zuverlässig und bezahlbar - und in immer mehr Kommunen voll umlagefinanziert. Die verbleibenden Autos, die noch auf Autobahnen und Landstraßen unterwegs sind, die meisten im Car-Sharing-Verbund, sind emissionsfrei und haben bei 100 bis 120 km/h ihre optimale Geschwindigkeit gefunden. Die Innenstädte sind verkehrsbefreite oder emissionsfreie Zonen. Radfahrer*innen können sicher unterwegs sein. Transport, der nicht über die Schiene erfolgen kann, wird durch emissionsfreie Lkw erledigt. Flüge gibt es noch für transkontinentale Reisen. Die Flugzeuge werden mit synthetischen Kraftstoffen betrieben, die überwiegend von den Golfstaaten im Nahen Osten mittels Solarenergie hergestellt werden – und dort eine neue Einnahmequelle geschaffen haben. Auch in den Schiffen kommen synthetische Kraftstoffe zur Anwendung, unterstützt durch Wind- und Solarenergie.

Die Wegwerfgesellschaft ist einer Kreislaufwirtschaft gewichen, sodass nur wenige Abfälle entstehen. Durch Langlebigkeit und Reparaturfähigkeit werden Ressourcen geschont und viele Transporte überflüssig. Aus „Take – make use – lose“ ist „Cradle-to-Cradle“ geworden. Entstehende Reststoffe können bedenkenlos in die Umwelt entlassen werden, weil sie ungiftig und biologisch abbaubar sind. Durch Grenzzölle wurden auch andere Wirtschaftsräume dazu gebracht, denselben Weg einzuschlagen.

Das Sozialsystem wird durch die Besteuerung von Einkommen und Kapital finanziert, denn durch die Digitalisierung sind viele Arbeitsplätze weggefallen. Neue Arbeitsmodelle mit niedrigerer Wochenarbeitszeit gehen einher mit dem Engagement in Gemeinschaften, wie bspw. solidarischer Landwirtschaft. In Teil-, Tausch-, und Reparaturnetzwerken werden alte Produkte wieder hergestellt oder Produkte gemeinsam genutzt und Neukäufe so vermieden.

Die industrielle Landwirtschaft ist in weiten Teilen der Permakultur gewichen. Die Menschen verzichten in ihrer Ernährung immer mehr auf tierische Produkte. Die Nahrungsmittelproduktion erfolgt nachhaltig, schützt Böden und Wasser. Die Pflege der Kulturen wird durch Roboter unterstützt. Um trotz der eingetretenen Klimaveränderungen mit extremen Temperaturen und Niederschlagsschwankungen verlässlich ernten zu können, wird eine Vielzahl verschiedener Sorten angebaut. Die Landwirtschaft unterstützt so den Erhalt der Biodiversität, die Humusbildung und bindet CO2.

2. Die Herausforderung

Die bisherige Politik hat versagt. Trotz zahlreicher Klimakonferenzen werden jedes Jahr mehr klimaschädliche Gase in die Atmosphäre geblasen. Die Klimakrise erreicht bereits heute in vielen Regionen der Welt lebensbedrohliche Ausmaße, das Artensterben beschleunigt sich, und auch weitere planetare Grenzen sind überschritten. Das Überleben der Zivilisation steht auf dem Spiel.

Die Wahrheit sagen

Unsere Rhetorik des Optimismus hat suggeriert, es wäre noch Zeit und der Umstieg tue niemandem weh. Wir könnten so weitermachen wie bisher, nur eben mit Erneuerbaren Energien, mehr Tierwohl und besserem ÖPNV. Die umwälzenden Veränderungen, die weltweit (!) notwendig sind, thematisieren wir nicht. Weil wir noch nicht alle Antworten parat haben. Weil wir selbst hoffen, dass es „irgendwie auch so“ klappt. Und ehrlicherweise auch deshalb, weil wir es für politisch nicht opportun halten.

Die Berichte des Weltklimarats IPCC werden nur von wenigen Menschen gelesen; zudem atmen sie den nüchternen Geist der Wissenschaft. Die dramatischen Auswirkungen der ökologischen Krisen sind den allermeisten Menschen nicht bewusst. Statt uns vom Vorwurf der Angstmacherei mundtot machen zu lassen, sollten wir uns verpflichtet fühlen, zu sagen, was ist. Nur so können wir die notwendige Dynamik entfachen, denn diese ungeheure Anstrengung bedarf der Kräfte aller. Kommunikativ wie politisch brauchen wir heute mehr Mut, um ein Morgen zu haben.

Das Notwendige fordern

Heute werfen uns Bewegungen wie Extinction Rebellion und Fridays for Future zu Recht vor, dass wir Grüne mit unseren Forderungen weit hinter dem zurückbleiben, was die Wissenschaft als notwendig erachtet, um die katastrophalsten Auswirkungen zu verhindern.

Deshalb: Unsere grünen Forderungen müssen sich am Stand der Wissenschaft orientieren. Das beginnt mit dem Abschied von festen Jahreszahlen für die Beendigung der Nutzung fossiler Ressourcen in einzelnen Sektoren. Im Kontext der Klimaziele ergibt nur der sogenannte „Budget-Ansatz“ wirklich Sinn: Wenn die globale Temperatur um nicht mehr als 2 Grad Celsius, möglichst 1,5 Grad Celsius, ansteigen soll, darf nur noch eine definierte Menge CO2 freigesetzt werden. Je rascher es uns gelingt, unsere Emissionen zu mindern, desto länger haben wir Zeit, die wirklich schwierigen Bereiche anzugehen. Wir haben keine zehn oder zwölf Jahre mehr, um zu handeln, wir müssen es jetzt tun. Und zwar mit den richtigen Instrumenten.

Die richtigen Instrumente wählen

Die umfassenden Veränderungen werden ohne einschneidende Veränderungen von Konsum und Lebensweise nicht möglich sein. Es ist unsere Aufgabe, dies ehrlich zu sagen, aber faire Vorschläge zu machen, um Akzeptanz und Mehrheiten zu gewinnen. Exemplarisch seien hier Flug-Zertifikate genannt, die Nicht-Fliegende meistbietend versteigern können – oder über mehrere Jahre aufsparen, um sich Träume zu erfüllen. Unabdingbar ist die Verwendung des Ordnungsrechts: Gesetze gelten für Reich wie Arm und sind deshalb sozial gerechter als jede Bepreisung. Auch in der Vergangenheit wurden die großen Fortschritte im Umweltbereich über Ordnungspolitik erzielt. Wenn keine neuen Autobahnen mehr gebaut werden, kann auch der Milliardär das nicht ändern. Wenn keine Lebensmittel mehr vernichtet werden dürfen, muss auch das Feinkostgeschäft seine Reste verschenken. Wenn es klare Vorgaben für den CO2-Ausstoß von Autos gibt, kann man für kein Geld der Welt mehr einen SUV zulassen. Der Staat muss klare Grenzen setzen, so wie uns die Natur auch Grenzen setzt; insbesondere, weil ein überproportionaler Teil der Emissionen von den finanziell Reichsten stammt.

Wir dürfen uns nicht in eine falsche Debatte über angeblich „unsoziale“ grüne Politikansätze verstricken lassen. Denn Probleme ungerechter Einkommensunterschiede, dem Verlust von Solidarität, des Konsums und des Wachstumsdrangs allgemein lassen sich nicht durch Energie-, Umwelt- oder Klimapolitik lösen. Wir werden bei allen Maßnahmen auf soziale Ausgewogenheit achten, doch eine ökologische Transformation wird es nur gepaart mit einer sozialen geben: Gerechtere Steuern, einen starken und aktivierenden Staat und Freiheit des Individuums bei hoher Aufklärung und richtigem Verbraucher*innenschutz. Die Klimafrage ist daher auch eine Systemfrage.

Die Systemfrage

Den steigenden Energiehunger mit unserer Art des Wirtschaftens zu bedienen, sei es auch mit Erneuerbaren Energien statt fossilen Energien, gleicht der Geschichte von Hase und Igel. Diesen Wettlauf erleben wir: Obwohl sich der Anteil Erneuerbarer Energien seit 2010 weltweit verzehnfacht hat, steigt der CO2-Ausstoß weiter an. Es ist allerdings irrsinnig, dass sich viele Menschen anscheinend eher das Ende der Zivilisation vorstellen können als das Ende des Kapitalismus. Auch der Weltklimarat hinterfragt nicht unser Wirtschaftssystem: Unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten soll möglich sein, indem Wachstum und Ressourcenverbrauch „entkoppelt“ werden. In der vernetzten Welt jedoch, in der Finanzströme über den Planeten rasen, um mittels Hochfrequenzhandel Geld ohne Wertschöpfung zu generieren, scheint nichts weiter entfernt zu sein als eine „stationäre Wirtschaft“, in der nur nachwachsende Rohstoffe in nachhaltiger Weise abgeschöpft werden und unbelebte Rohstoffe im Kreislauf geführt werden.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Wir können mit dem Kampf gegen die Klimakrise nicht auf die Weltrevolution warten. Deshalb bleibt uns einstweilen nur der Weg der kleinen Schritte: Bepreisung natürlicher Ressourcen, Umbau der Agrarförderung, adäquate Besteuerung leistungsloser Einkommen, Stärkung der Gemeinwohlökonomie usw. Für all das kämpfen wir für Mehrheiten und werben dennoch weiterhin, auch transformative Sprünge zu wagen. Ein Verharren im Klein-Klein der Tagespolitik steht weder uns Grünen gut zu Gesicht, noch ist es angesichts der Herausforderung angemessen. Damit grenzen wir uns klar von den sogenannten „Volksparteien“ ab und tragen dazu bei, dass neue Möglichkeitsräume geschaffen werden.

3. Das Fundament

Im Zwischenbericht zum Grundsatzprogramm ist der Begriff der Freiheit zu seinen philosophischen Wurzeln zurückgeführt worden. Denn der vulgär-liberalistische Ansatz, nachdem das Recht des Stärkeren (Reicheren, Privilegierteren) als „Freiheit“ definiert wird, wurde von Medien und Gesellschaft unhinterfragt übernommen. Der Bericht formuliert dagegen: „Freiheit und Selbstbestimmung finden ihre Grenze dort, wo sie anderen Menschen und zukünftigen Generationen genommen werden.“ Und ja, damit endet die Freiheit des Einzelnen genau dann auf seinem Teller, in seiner Garage oder bei seiner Urlaubsplanung, wenn Millionen andere Einzelne die gleichen nicht-nachhaltigen Entscheidungen treffen wollen. Wir lösen dieses collective action dilemma jedoch nicht über Individualisierung sondern nur über starke Politik. Dabei kann es nicht um „Schnitzel oder kein Schnitzel“ gehen, sondern um den Zusammenhang von Massentierhaltung und Millionen Klimaflüchtlingen.

Im Grundgesetz heißt es in Artikel 2, Satz 1: „(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Was so deutlich im Grundgesetz (noch nicht) steht, ist, dass es eine natürliche Obergrenze der vom Individuum in Anspruch genommenen Freiheiten gibt. Unsere Freiheit reicht nur so weit, wie natürliche Ressourcen vorhanden sind. Wir müssen also einen Weg finden, die begrenzt vorhandenen Güter zu verteilen, dies sollte am besten anhand von sozialen und demokratischen Kriterien geschehen.

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