Debattenbeitrag

Gesundheit neu denken

Ein Debattenbeitrag der Landesarbeitsgemeinschaft Gesundheit der GRÜNEN Baden-Württemberg.

Gesundheitswesen solidarisch, gerecht und verlässlich

Im Gesundheitswesen in Deutschland wird viel Positives geleistet. Viele Menschen arbeiten mit hohem Engagement. Es gibt aber Bereiche der Unterversorgung und Fehlsteuerung. So belegt Deutschland im europäischen Vergleich in Bezug auf die Lebenserwartung lediglich einen der mittleren Plätze. Qualifizierte Angebote sind nicht immer da, wo sie am meisten gebraucht werden. Gute Leistung wird nicht immer angemessen anerkannt, zum Beispiel im Bereich der Pflege.

Wir wollen das nicht länger hinnehmen und werden Gesundheit neu denken, damit möglichst viele Menschen in Deutschland bis ins hohe Alter in Gesundheit leben können. Dafür ist es notwendig, Gesundheitspolitik als Querschnittsaufgabe zu verstehen. Alle Ressorts und alle Ebenen – vom Bund bis zu den Kommunen – stehen in der Verantwortung, aktiv zu einer positiven Gestaltung der Gesundheitspolitik beizutragen.

Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem muss sich am Grundprinzip der staatlichen Daseinsfürsorge ausrichten.

1. Sichere Gesundheitsversorgung für alle

Die Gesundheitsversorgung ist kompliziert, in einigen Bereichen ist sie zu kompliziert zu Lasten von Qualität, Sicherheit und Effektivität. Sich im Dickicht der Gesundheitsangebote zurechtzufinden, fällt vielen Menschen schwer. Die koordinierende Primärversorgung durch Hausärzt*innen und Primärversorgungszentren, in denen die verschiedenen Berufsgruppen auf Augenhöhe zusammenarbeiten, muss daher ausgebaut werden. Überflüssige, bürokratische Hürden zwischen den Versorgungssektoren, z. B. zwischen Praxen und Krankenhäusern müssen abgebaut und Pflegeberufe aufgewertet werden.

Die Kommerzialisierung nimmt teilweise problematische Ausmaße an. Dies betrifft z.B. die Priorität wirtschaftlicher Aspekte bei Klinikkonzernen. Es ist kaum nachvollziehbar, dass ein Teil der Versichertenbeiträge, die für Zwecke der medizinischen Daseinsfürsorge geplant sind, als Dividenden an Aktienbesitzer ausbezahlt werden. Stark gefördert wird diese Fehlentwicklung durch die Bezahlung von Krankenhausleistungen nach dem G-DRGs-System (Diagnosis Related Groups, DRGs). Dadurch wird über Art und Dauer von Behandlungen nicht nur medizinisch, sondern auch betriebswirtschaftlich entschieden. Für die Menschen in diesen Kliniken bedeutet dies krank machende Arbeitsverdichtung und die Gefahr von Qualitätsmängeln bei der Versorgung. Das System der alleinigen Einzelleistungsvergütung hat sich nicht bewährt. Eine Vergütungsreform muss daher ein Mischsystem aus Vorhaltepauschalen und auskömmlichen Budgets enthalten.

Aber auch die Versorgung mit Medikamenten und Medizinprodukten müssen wir in den Fokus nehmen. Großkonzerne, die nur noch in Übersee unter problematischen „Billigbedingungen“ produzieren lassen, sind ein Problem, welches politisch angegangen werden muss.

Ein System, das jährlich ein Volumen von mehr als 387 Milliarden € umsetzt, bedarf einer stärkeren wissenschaftlichen Durchdringung (Statistisches Bundesamt 2019). Es ist daher notwendig, die universitäre Versorgungsforschung im Gesundheitswesen zu intensivieren, u.a. mit den Themen Vereinfachung und Entbürokratisierung, Unter- und Fehlversorgung, Probleme der Kommerzialisierung.

Die Gesundheitsversorgung soll im Rahmen des Möglichen vereinfacht, entbürokratisiert und verbessert werden. Negative Auswirkungen von Kommerzialisierung müssen abgebaut werden.

2. Eine Bürgerversicherung für alle

Das Gesundheitswesen muss solidarisch, gerecht und verlässlich finanziert werden. Wir brauchen daher eine Bürgerversicherung, in der alle Einkommensarten zur Finanzierung herangezogen werden. Alle medizinisch notwendigen Leistungen werden von der Bürgerversicherung übernommen. Individuelle Zusatzleistungen können über private Zusatzversicherungen vereinbart werden.

Leistungsvoraussetzungen sind teilweise komplex und schwer handhabbar formuliert, was unverhältnismäßig hohen bürokratischen Aufwand und Ungerechtigkeit zur Folge hat. Der kostenintensive Verwaltungsaufwand für die mehr als 100 Krankenkassen und für den Risikostrukturausgleich (RSA) muss durch geeignete Maßnahmen gesenkt werden. Einfachere Strukturen und einfacher zu handhabende Leistungsvoraussetzungen sollen erarbeitet und umgesetzt werden.

3. Gesundheitsförderung und Prävention

Gesundheitsförderung ist eine permanente politische und gesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die gestärkt und flächendeckend in den Lebenswelten verankert werden muss, in denen die Menschen leben, lernen und arbeiten. Sie setzt schwerpunktmäßig in jungen Familien, Kitas und Schulen an, ohne die Lebenswelten der Berufstätigen und der Älterwerdenden aus dem Auge zu verlieren. Sie muss mehr als bisher den Bedarf von sozial benachteiligten Gruppen berücksichtigen. Sie erfordert ressortübergreifende gemeinsame Vorgehensweisen auf allen staatlichen Ebenen, die untereinander abgestimmte Strategien entwickeln und kooperativ unter Einbeziehung der relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen umsetzen.

Präventiv muss auch der Gesundheitsschutz der Menschen verbessert werden. Dazu gehören der Schutz vor Lärm im Wohnumfeld und am Arbeitsplatz ebenso wie der Schutz vor Umweltgiften und gesunde Aufenthalts- und Bewegungsmöglichkeiten im Freien, im Besonderen für Kinder und Jugendliche. Umweltschutz ist Gesundheitsschutz.

Eine wohnortnahe qualitativ gute Hebammenbetreuung, auch vor der Geburt und im ersten Lebensjahr, muss flächendeckend ausgebaut werden. Die Beratung von jungen Familien in ihrem Zuhause sollte v. a. auch in sozialen Problemsituationen zum festen Bestandteil der Gesundheitsförderung werden.

Die kommunale Gesundheitsberichterstattung und die Forschung im Bereich Gesundheitsförderung müssen gestärkt werden, damit auf einer guten wissenschaftlichen Datenbasis der gesundheitlichen Ergebnisse die Gesundheitsförderung und die Prävention weiterentwickelt werden können.

4. Pflege würdigen und fördern

Gute Pflege ist wichtig. Pflege und Pflegende wurden in der Vergangenheit nicht gerecht gewürdigt. Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den Berufsgruppen und gerechte Bezahlung sind überfällig. Wir setzen uns dafür ein, dass beruflich Pflegende die Verantwortung und Steuerung für Konzeption und Gestaltung des Pflegebildes, der Pflegepraxis, des Pflegemanagements und der Pflegeforschung übernehmen.

Beruflich Pflegende und Hebammen müssen die Rahmenbedingungen vorfinden, die notwendig sind, ihre Professionen mit allen Potenzialen ausüben zu können. Dazu benötigt die Pflege die Errichtung einer Selbstverwaltungseinrichtung wie z.B. der Pflegeberufekammer. So wird der Beruf aufgewertet und junge Menschen werden motiviert, diesen Beruf zu ergreifen.

5. Kommunale Daseinsfürsorge auch im hohen Alter gewährleisten

Die Gesellschaft altert. Auch im hohen Alter möchten die Menschen möglichst selbstbestimmt in der gewohnten Umgebung leben. Dies soll von den Kommunen unterstützt werden. Pflegende Angehörige sollen stärker entlastet und Wohnungen altersgerecht ausgebaut werden. Ähnlich wie bei Kinderbetreuung soll Altenbetreuung kommunal gefördert werden. Dazu gehören sozialpädagogische Maßnahmen, altengerechte Aufenthaltsmöglichkeiten in und außerhalb von Gebäuden.

Statt eines weiteren Ausbaus von großen Heimeinrichtungen wollen wir Wohn- und Pflegeformen im Wohnviertel, wie beispielsweise genossenschaftliche Wohnprojekte und Pflege-WGs flächendeckend ausbauen.

6. Digitalisierung als Instrument, aber nicht als Selbstzweck

Die Digitalisierung bietet im Bereich des Gesundheitswesens Chancen für einen effizienteren Einsatz von Ressourcen und eine qualitative Verbesserung von Gesundheitsversorgung und medizinischer Forschung. Sie unterstützt durch intelligenten Informationsaustausch die koordinierte Versorgung jedes einzelnen.

Für Patient*innen fordern wir transparente Zuweisungsmöglichkeiten von Nutzungsrechten an ihren Daten. Digitalisierung ist aber kein Allheilmittel und birgt auch Gefahren. So muss sichergestellt werden, dass die hochsensiblen Gesundheitsdaten vor Missbrauch geschützt werden. Damit Digitalisierung auch im Gesundheitsbereich gelingen kann, muss neben hohen Sicherheitsstandards auch die Kompatibilität verschiedener Systeme gewährleistet sein. Hier wollen wir verbindliche Standards setzen, um teure und technisch aufwendige Mehrfachstrukturen zu vermeiden.