Europa, mon amour

In welcher Nachbarschaft wollen wir leben? Die Politikwissenschaftlerin und EU-Expertin Ulrike Guérot träumt von einem Europa, das gleiche Rechte für alle schafft und Identität stiftet wie eine Nation – ohne dabei die Vielfalt zu verneinen.

Wirkliche Liebe sticht, sie ist tückisch, hat Verwirrungen und Verfehlungen, sie ist wahnsinnig obsessiv, tut weh, denn sie darf eigentlich nicht sein. Wahre Liebe lebt man nicht, kann man nicht leben, denn sie ist eigentlich unerträglich, die permanente Oper, wer will das schon? So ähnlich kommt mir das mit meiner Liebe zu Europa vor: Europa, mon Amour, der alle meine Sehnsüchte gelten. Europa scheint stets unerreichbar, scheut sich, mit mir zusammen ans Tageslicht zu treten, lässt sich immer verleugnen, macht immer Theater. Aber loslassen kann ich eben auch nicht, füllt diese Liebe doch mein Leben aus, macht es interessant, ist die Flamme, die mich nach vorne treibt, mich spüren lässt, meinem Leben einen Sinn gibt. Vor allem dann, wenn diese tumben Kerle überall wieder auf den Plan treten und mich umgarnen, mit ihren pomadegescheitelten Köpfen und ihrem politischen, gähnenden Pragmatismus. Dann vor allem sehne ich mich nach Europa, mon Amour, nach seiner Echtheit, Schönheit und Kultur.

Genug Gesäusel, ich kann auch anders, konkret, pragmatisch und beginne doch mit einem Traum: Ich träume von transnationalen Listen bei der EU-Wahl 2019. Das ist der Sprung in die gemeinsame europäische Demokratie. Warum? Ein Beispiel: Wir wurden zur Deutschen Nation, weil wir 1867 gleiche und geheime und direkte Wahlen eingeführt haben. Das hat uns zu Deutschen gemacht. Deshalb: One Person, one Vote. Und dafür brauchen wir transnationale Listen. Transnationale Parteien sind eine ganz wichtige Stellschraube für die Verrechtlichung von gleichen und geheimen Wahlen.

Aber ich habe noch mehr Träume, größere, wildere. Wie wäre ein Prozess, über die nächsten zehn bis 20 Jahre, der uns Bürger in unseren existenziellen Rechten gleichstellt? Das wäre eine Perspektive! Gleiches Wahlrecht, gleiches Steuerrecht und auch gleiche soziale Rechte in ganz Europa. Konkret heißt das: Ein Euro, eine IBAN-Nummer und eine europäische Sozialversicherungsnummer. Wir könnten von Barcelona nach London nach Warschau nach Brüssel reisen und dort arbeiten, ohne uns ständig darüber Gedanken machen zu müssen, wer gerade welche Sozialrechte hat.

Das wäre der Durchbruch zu einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Tatsächlich glaube ich, das ist machbar. Der Euro durchlief auch einen Prozess: Wir haben erstmal von einer gemeinsamen Währung geträumt, das war 1970. Dann kam 1992 der Euro mit dem Vertrag von Maastricht durch die Tür der Geschichte. 2002 wurde er schließlich eingeführt. Aber nicht, weil wir rechts und links darüber diskutiert haben, sondern weil wir einen Vertrag gemacht haben. Den Vertrag setzten wir auf eine Zeitschiene, von 1992 bis 2002, und dann wurde die gemeinsame Währung mit einer Stichtagsregelung eingeführt. Dem Beispiel folgend bin ich überzeugt, dass wir auch eine europäische Sozialversicherungsnummer einführen können. Wir könnten sagen: Am 1.1.2029 bekommen wir alle eine europäische Sozialversicherungsnummer – das würde zu einer Harmonisierung im Verwaltungsbereich führen. Sie hätte eine ganz große identitätsstiftende Wirkung – gelebte Bürgerschaft für europäische Bürger! Denn im Moment reden wir immer vom europäischen Bürger, aber als Bürger sind wir national, weil wir als Bürger im nationalen Recht festsitzen.

Ich betone immer wieder: Ich stelle mir keinen europäischen Superstaat vor. Ich möchte, dass wir endlich mal ernst machen mit dem was wir sagen, was Europa sein soll: Einheit in Vielfalt. Die Einheit ist dabei nur normativ, nämlich die Rechtsgleichheit, während die Vielfalt eine regionale ist. Genau wie in Deutschland Bayern nicht das Rheinland und nicht Bremen ist. Wir haben ja schon innerhalb der Bundesrepublik große kulturelle Unterschiede. Aber was verbindet mich als jemand aus Düsseldorf mit den Leuten aus Rügen und München? Die normative Einheit: Ich wähle den Bundestag unter gleichen Bedingungen, ich zahle die gleichen Steuern – das macht mich zur deutschen Staatsbürgerin. Und nicht die Tatsache, dass ich in Bayern ein Dirndl trage. Insofern ist Europa die normative Einheit in kultureller Vielfalt.

Es ist mein Ziel, dass wir diese kulturelle Vielfalt per se in den Regionen behalten. Gleichzeitig erweitern wir den normativen Rechtsraum und bilden eine europäische Republik. Die Identität der Regionen wird gewürdigt. Die Regionen bekämen eine größere Bedeutung. Man könnte den Regionen auch Senatoren geben, sie wären dann in einer Kammer vertreten und so an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt. Eine wirtschaftliche und auch kulturelle Aufwertung wäre die Folge. Deshalb: Kein europäischer Superstaat, sondern eine europäische Gewaltenteilung, das ist etwas völlig anderes. Denn die Rechtsgleichheit allein macht keinen Superstaat! Wir behaupten ja auch nicht, dass Deutschland ein zentralisierter Superstaat ist, nur weil wir von München bis Rügen die gleiche Arbeitslosenversicherung haben. Wir haben Rechtsgleichheit und trotzdem Gewaltenteilung und sind die Bundesrepublik.

Bei all meiner Liebe und Schwärmerei für Europa möchte ich auf ein Problem hinweisen: Es findet eine Werteverschiebung statt von Europa als Friedensgemeinschaft – ich nenne es Friedenserzählung – hin zu einer Sicherheitserzählung. Wenn es momentan um Europa geht, dann wird von Abschottung gesprochen. Das generiert Angst. Heute ist der europäische Wert, um den es allzu oft geht, Sicherheit. Sicherheit ist schön und gut, aber kein Wert an sich. Auch hinter Gittern kann man sicher sein. Nur leider nicht frei. Und: Gestorben wird immer für die Freiheit, nicht für die Sicherheit. Freiheit ist ja überhaupt erst der Sinn der Politik. Und manchmal muss man eben seine Sicherheit aufgeben, um die Freiheit zu verteidigen. Das hat Sophie Scholl gemacht.

Immer wenn Sicherheit zum Wert erklärt wird, ist die Freiheit in Gefahr. Das sehe ich heute als Problem im europäischen Diskurs: Weil wir so eine starke Akzentuierung auf Sicherheit haben, sind wir dabei, die Freiheit zu verspielen. Das kulturpolitische Erbe, das Werteerbe, das zivilisatorische Erbe Europas ist natürlich das Erbe der französischen Revolution – die Menschenrechte. Liberté, Egalité, Fraternité. Alle Menschen sind geboren gleich und frei in ihren Rechten. Securité kommt da nicht vor.

So wie die unglückliche Norma auf den Scheiterhaufen geht, weil sie Polliones Liebe nicht erreichen kann, so sind schon viele an unglücklicher Liebe gestorben. Weil es einen wirklich in den Wahnsinn treiben kann, wie sehr Europa, mon Amour sich bitten lässt, zu sein, einfach da zu sein, an meiner Seite zu sein, für immer.

Ulrike Guérot

Ulrike leitet an der Donau-Universität Krems, Österreich, den Fachbereich für Europapolitik und Demokratieforschung. In Berlin hat sie die Denkfabrik European Democracy Lab gegründet. Auch in ihren Büchern beschäftigt sie sich mit der Zukunft Europas. „Der neue Bürgerkrieg – das offene Europa und seine Feinde“ erschien 2017. Momentan hat sie eine Gastprofessur in Frankfurt inne.