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"Es ist wichtig, neue Allianzen zu schmieden"

Harvard-Professor Daniel Ziblatt untersucht, was Demokratien bedroht. Ein Gespräch über Deutschland, seine Erlebnisse als Austauschstudent in Zeiten der Wiedervereinigung – und was er Parteien aktuell rät.

Eigentlich forschen Daniel Ziblatt und sein Kollege Steven Levitsky über den Niedergang von Demokratien in Europa und Südamerika. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie Mussolini, Franco, Pinochet oder Perón an die Macht gelangen konnten. Nach dem Regierungsantritt von Donald Trump wandten sich die beiden Harvard-Professoren dem eigenen Land zu. „Wie Demokratien sterben“ heißt ihr viel beachtetes, überraschend nüchternes Buch. Die These: Wenn Demokratien sterben, dann häufig, indem ihre Werte, Institutionen und Verfahren langsam von innen aufgelöst werden. Es braucht also keine Panzer auf den Straßen, um die Freiheit zu ersticken, Demokratien können auch von ihren gewählten Führern zu Fall gebracht werden. Wir baten Daniel Ziblatt, seinen an Trump geschärften Blick wieder auf sein ursprüngliches Studienobjekt Europa und Deutschland zu richten.

Herr Ziblatt, Sie haben im Sommer mehrere Wochen lang in München gelebt. Als Gastprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität haben Sie den Asylstreit zwischen Innenminister Horst Seehofer und der Bundeskanzlerin miterlebt.

Ich bin am Samstag vor der großen „Ausgehetzt“-Demo in die USA zurückgeflogen. Leider habe ich die Kundgebung deshalb verpasst. Aber den Streit habe ich selbstverständlich sehr intensiv mitverfolgt. Themen wie politischer Anstand und populistischer Sprachgebrauch gehören ja zu meinen unmittelbaren Forschungsgebieten. Neben meiner Lehrtätigkeit blieb noch etwas Zeit für eigene Recherchen übrig. Ich habe mit Landräten und CSU-Politikern über die AfD gesprochen und versucht zu verstehen, warum diese Partei derzeit so viel Zuspruch bekommt.

Sind Sie über das, was Sie da gehört haben, erschrocken?

Als Steven Levitsky und ich unser Buch über Trump schrieben, war Deutschland für mich so etwas wie ein Gegenpol zu den USA. Ich dachte: Der deutschen Demokratie geht es gut, und das stabile deutsche Parteiensystem ist ein guter Schutz gegen jede Form des Extremismus. Inzwischen habe ich festgestellt, dass das so wohl nicht mehr ganz stimmt.

Wie würden Sie den Zustand der deutschen Demokratie beschreiben?

Sie ist sicherlich in einem Stadium der Veränderung begriffen. Der Aufstieg der AfD ist dafür gleichzeitig ein Symptom und eine Ursache. Die Art und Weise, wie die CDU und insbesondere die CSU mit dieser Partei umgehen, bringt einige Schwächen im System zum Vorschein. Politiker*innen der konservativen Parteien glauben manchmal, es sei eine geeignete Strategie, die Sprache der Populisten zu imitieren und ihre Ideen für sich in Anspruch zu nehmen. Meiner Meinung nach ist das ein eklatanter Fehler. Trotz allem ist das deutsche Parteiensystem deutlich robuster als beispielsweise das italienische. Und die Mitte-Rechts-Parteien CDU und CSU verhalten sich weitaus verantwortungsvoller als die Republikaner in den USA.

Woran machen Sie das fest?

Es gibt einen Lackmustest der Demokratie. Man kann mit ihm bestimmen, welche Politiker*innen nach den Regeln der Demokratie spielen und welche nicht. Duldet eine Partei Gewalt? Betrachtet sie den politischen Konkurrenzkampf mit Andersdenkenden als legitim? Stellt sie sich hinter die Grundregeln der Verfassung? Wie geht sie mit den Schiedsrichter*innen um, den Gerichten, der Presse? Das sind die Dinge, auf die es ankommt. Wenn diese Grundsätze verletzt werden, müssen die Institutionen und die Gesellschaft sehr schnell und strikt reagieren. Und bislang werden diese Grenzen nur selten überschritten.

Was würden Sie den demokratischen Parteien aktuell raten?

Ich glaube, dass es sich rächt, wenn Parteien die Themen vernachlässigen, die den Alltag bestimmen. Parteien müssen innovativ und kreativ sein. Sie müssen versuchen zu spüren, was die Wähler*innen bewegt. Wenn Wähler*innen sich darüber beschweren, dass ihre Großeltern bei der medizinischen Versorgung lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, dürfen nicht Migrant*innen oder Geflüchtete beschuldigt werden, sondern es muss einfach mehr für Krankenhäuser ausgegeben werden. Man kann die sozialen Spannungen am besten auflösen, indem man die zugrunde liegenden sozialen Probleme wirklich in Angriff nimmt. Demokratien haben eine Art Autokorrektur: Wenn man den Leuten nicht das gibt, was sie benötigen, hören sie auf, an die Urne zu gehen – oder sie wählen Parteien und Kandidat*innen, die sich nicht an die Regeln halten.

Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass die Welt immer demokratischer werden würde. Am Ende des Kalten Krieges entstanden zahlreiche neue Demokratien und die politische Stimmung war vielerorts von Hoffnung und Euphorie geprägt.

Nach dem Jahr 1990 gab es einen riesigen Zuwachs an Demokratien, aber schon zehn, 15 Jahre später begann man von einer „Rezession der Demokratien“ zu sprechen, wie der Politologe Larry Diamond das nannte. Und seit einigen Jahren entstehen kaum noch neue Demokratien, und jüngst nimmt ihre Zahl sogar eindeutig ab. Zum einen haben einige junge Demokratien an Kraft verloren und drohen in vordemokratische Zustände abzurutschen. Denken wir an Thailand, die Türkei, Ungarn oder Venezuela. Der zweite Trend erscheint mir jedoch noch besorgniserregender. Nämlich, dass etablierte, ältere Demokratien mit den Bedrohungen von rechts nur schwer zurande kommen. Die meisten dieser Demokratien wirken noch stabil, aber wir können eindeutig Veränderungen feststellen. Beispiele für solche Entwicklungen gibt es übrigens auch in der Vergangenheit genügend. Nach dem Jahr 1918, beispielsweise, sind viele neue Demokratien entstanden, und in den 20er- und 30er-Jahren gingen diese wieder drastisch zurück.

Die deutsche Wiedervereinigung war eine spektakuläre Ausweitung der Demokratie. Wie haben Sie diese Phase der deutschen Geschichte erlebt?

Ich habe im Jahr 1990 in Baden-Württemberg gelebt und bin dort aufs Gymnasium gegangen. Mitten im Jahr kamen neue Schüler*innen zu uns, die aus dem Osten stammten. Man spürte Spannungen und Vorurteile auf beiden Seiten. Es gab große kulturelle Unterschiede zwischen den beiden Bevölkerungsteilen. Ich habe mitbekommen, wie die Wiedervereinigung als Übernahme des Ostens durch den Westen kritisiert wurde. Vermutlich wäre ein langsamerer Übergang sinnvoller gewesen. Viele vertraten damals die Ansicht, dass ein riesiger Zeitdruck herrschte und man die Wiedervereinigung praktisch über Nacht bewerkstelligen müsse. Auf diese Weise entstand bei vielen im Osten eine große Unzufriedenheit. Ich habe an den Universitäten miterlebt, wie die Leute aus dem Osten an den Rand gedrängt wurden. Aus heutiger Perspektive ist klar, dass man sensibler hätte vorgehen sollen. Aber natürlich gab es für diesen Prozess keine historischen Vorbilder und deshalb fällt es mir schwer, den Beteiligten einen Vorwurf zu machen. Deutlich ist, dass zunächst die PDS von diesem Missmut profitierte und heute die AfD. Insofern ist die Wiedervereinigung ganz sicher ein wichtiger Wendepunkt für das deutsche Parteiensystem.

Haben Ihre Erlebnisse als Austauschstudent in Deutschland Ihr Verhältnis zur Demokratie beeinflusst?

Ja. Ich bin im Herbst 1990 durch das ländliche Ostdeutschland gereist und habe das unmittelbare Erbe des Kommunismus gesehen. In den 90er-Jahren habe ich immer wieder über längere Zeiträume in Ost- und Westberlin gelebt. Diese Erfahrungen haben mir die Stärken der Demokratie vor Augen geführt, aber auch den Einfluss verdeutlicht, den historische Hinterlassenschaften auf das Alltagsleben ihrer Bürger*innen haben. Wir sehen diese beiden Kräfte bis heute wirken.

Was würden Sie einem Jugendlichen entgegnen, der nicht zur Wahl gehen will, weil er glaubt, dass die Konzerne mächtiger sind als jede Regierung, die er wählen kann?

Ich würde sagen: Du bist sehr schlecht informiert. In unseren Gesellschaften bestimmen immer noch die Regierungen, wo es lang geht. Geh lieber wählen, sonst wird den Großkonzernen wirklich noch erlaubt werden, dass sie sich so aufführen, wie es dir garantiert nicht gefällt. In Demokratien führt Zynismus zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Dein Zynismus wird im Endeffekt dafür sorgen, dass deine Ängste Wirklichkeit werden.

Der Asylstreit hat in Deutschland die Diskussion über Multikulturalismus neu entfacht. Haben es Demokratien in Gesellschaften, die sich aus vielen verschiedenen Kulturen zusammensetzen, schwerer?

Nein, die beiden gehören zusammen. Multikulturelle Gesellschaften, wie wir sie heute in vielen Regionen der Welt vorfinden, können nur als Demokratien erfolgreich funktionieren. Multikulturalismus bedeutet ja gerade, dass alle über die gleichen politischen Rechte verfügen, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund.

Viele Konservative wollen die Tatsache, dass diese Entwicklung unumkehrbar ist, nicht wahrhaben.

Das ist fatal. Als die kalifornischen Republikaner in den 1990er-Jahren eine Politik gegen die Migrant*innen führten, wurden sie aufgrund der demographischen Zusammensetzung dieses Staats mit einem miserablen Wahlergebnis bestraft. Seitdem sind sie eine Minderheitenpartei in Kalifornien. Auch wenn die Republikaner momentan stark sind, arbeitet die Zeit gegen diese Partei, weil sie fast nur von Weißen gewählt wird. Wenn sie sich nicht öffnen, beispielsweise für konservative Latinos, wird es mit den Republikanern böse enden. Parteien müssen sich diesen gesellschaftlichen Veränderungen stellen und neue Wege gehen.

Wie kann ein neuer Kommunikationsstil in der Politik aussehen?

Emmanuel Macron ist ein interessantes Beispiel. Er grenzt sich sehr deutlich von antidemokratischen Tendenzen ab, geht aber auf viele verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu. Auch Barack Obama hat es ja beispielsweise geschafft, Wähler*innen anzusprechen, die ihm zunächst mit großen Vorbehalten begegneten. Mit seinen Ideen und seinem neuartigen Regierungsstil hat er unerwartete Verbündete gewonnen. So etwas könnte auch für die Grünen in Deutschland modellhaft sein. Es ist wichtig, neue Allianzen zu schmieden. Das ist derzeit sicher eine der größten Herausforderungen in der Politik. Die demokratisch gesinnten Gruppen müssen zusammenarbeiten und einander unterstützen, selbst wenn ihre politischen Meinungen sehr unterschiedlich sind.

Können derartig breite Allianzen nicht auch dazu führen, dass politische Unterschiede verwischt werden?

Natürlich sind klare Wechsel zwischen Regierungen wichtig, damit die Wähler*innen wirklich eine Wahl haben und echter politischer Wettstreit stattfinden kann! Aber in einem konsensorientierten System wie in Deutschland sind große Koalitionen ein normaler, wenn natürlich nicht liebenswerter Bestandteil der Politik. Wenn die Demokratie in eine existentielle Krise gerät, wie es in Europa in den 20er-Jahren der Fall war, müssen politische Gegner, die sich der Demokratie verpflichtet fühlen, gemeinsame Nenner finden, um die demokratische Regierungsform zu verteidigen. In Deutschland besteht eine solche Situation derzeit sicherlich nicht. Aber es ist wichtig, sich in Krisenfällen auf dieses Prinzip zu verständigen.

Kann die Krise der Demokratie auch eine Chance für das Wiedererstarken der Demokratie sein?

Absolut. Wenn in München Zehntausende auf die Straße gehen, weil sie die aktuelle Entwicklung als demokratiefeindlich empfinden, dann ist das ein positives Zeichen. 40 verschiedene Organisationen aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen haben zu dieser Veranstaltung aufgerufen und zwischen 25.000 und 50.000 Personen sind diesem Aufruf gefolgt. Dass so viele auf die Einhaltung der Spielregeln pochen, ist großartig. Ganz besonders für die jugendlichen Teilnehmer*innen der Demonstration. Sie lernen auf diese Weise, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, und man sich zumindest in bestimmten Momenten einbringen muss. Optimistisch stimmt mich auch die starke Mobilisierung, die derzeit in den USA zu beobachten ist. Im November sind Kongresswahlen und es ist fantastisch zu sehen, wie viele Frauen sich derzeit als Kandidatinnen aufstellen lassen. Das ist eine neue Entwicklung in unserem Land und kann der Demokratie nur guttun.

Professor Daniel Ziblatt

Daniel Ziblatt

Daniel ist 1972 in Kalifornien geboren. Das Schuljahr 1990/91 verbrachte er als Austauschschüler in Baden-Württemberg. Er unterrichtet Regierungswissenschaft am Center for European Studies in Harvard. Als einer der führenden Experten in europäischer Demokratiegeschichte beschäftigt er sich mit dem Aufkommen von autoritären Regimen. Ziblatt war Gastprofessor an der École normale supérieure de Paris, am Max-Planck-Institut in Köln und an den Universitäten von Konstanz und München.
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