Interview

„Die Wirtschaft muss sich neu erfinden“

Porträtfoto von Annalena Baerbock.
© Urban Zintel

Das vergangene Jahr stand im Zeichen der Klimakrise – weshalb die Grünen es für das neue Jahrzehnt als ihre zentrale Aufgabe begreifen, eine klimaneutrale Wirtschaft zu schaffen. Wie aber verträgt sich der Wunsch nach Wachstum mit dem Ziel der Nachhaltigkeit? Und wie erklärt man dem Kohlebergbauer aus der Niederlausitz, dass er wegen des ökologisch motivierten Kohleausstiegs seinen Job verliert? Im Interview mit ZEIT ONLINE gibt Grünenchefin Annalena Baerbock Antworten.

Erstveröffentlichung in ZEIT ONLINE am 02.01.2020

Von Ileana Grabitz und Katharina Schuler

ZEIT ONLINE: Frau Baerbock, 2020 hat gerade begonnen. Was sind Ihre guten Vorsätze für das neue Jahr?

Annalena Baerbock: Die privaten oder die politischen?

ZEIT ONLINE: Das dürfen Sie sich aussuchen.

Baerbock: Also privat habe ich mir vorgenommen, endlich wieder mehr Sport zu machen. Und politisch: 2020 beginnt das entscheidende Jahrzehnt, in dem sich die Wirtschaft neu erfinden und den Pfad zu einer klimaneutralen Produktionsweise einschlagen muss. Diesen Weg wollen wir maßgeblich mitbereiten.

ZEIT ONLINE: In Zeiten der Klimakrise steht bei vielen sicher auch auf der Liste der guten Vorsätze: Statt auf Mallorca machen wir dieses Jahr in Mecklenburg-Vorpommern Urlaub. Oder schaffen das Auto ab. Solche Vorsätze haben Sie nicht?

Baerbock: Mit guten Vorsätzen bin ich immer sehr sparsam, da ist die Gefahr zu groß, dass sie nicht eingelöst werden (lacht). Was den Versuch angeht, möglichst nachhaltig zu leben, ist auch bei mir und meiner Familie noch Luft nach oben: Manches gelingt mehr – etwa viel Zugfahren –, manches weniger. Ich koche zum Beispiel viel auf Vorrat, weil ich unter der Woche so selten da bin. Und dann stehen die Nudeln doch mal wieder zu lange im Kühlschrank und landen im Müll.

ZEIT ONLINE: Aber mal ehrlich: Hilft es wirklich weiter, wenn eine Familie auf Flüge verzichtet, Plastik spart oder vegetarisch lebt, wenn es darum geht, beim globalen CO2-Ausstoß das Ruder herumzureißen?

Baerbock: Ich habe großen Respekt vor allen, die wirklich nachhaltig leben. Aber das Handeln des Einzelnen allein wird nicht reichen in einem System, das die planetaren Grenzen nicht anerkennt. Wir müssen das System ändern. Die Anreize sind oft falsch. Nehmen Sie die Bauern: Kein Bauer steht morgens auf und sagt: "Heute möchte ich Kühe quälen." Aber das Produktionssystem und die Landwirtschaftspolitik der EU zwingen Landwirte dazu, immer intensiver zu wirtschaften, weil sie sonst auf dem Billigmarkt nicht mithalten können. Industrielle Landwirtschaft wird belohnt. Das müssen wir umstellen.

„Klimaschutz wird die dominierende Rahmenbedingung für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand sein.“
Annalena Baerbock

ZEIT ONLINE: Aber selbst wenn Deutschland den Systemwechsel schaffen würde: Deutschland hat gerade mal einen Anteil von zwei Prozent am weltweiten CO2-Ausstoß, was wäre damit im Vergleich zu den viel größeren Klimasündern wie China gewonnen?

Baerbock: Na ja, bei Vergleichen muss man immer genau hinschauen: Natürlich haben wir als verhältnismäßig kleines Land mit gut 82 Millionen Einwohnern in absoluten Zahlen einen deutlich geringeren CO2-Ausstoß als riesige Länder wie Indien oder China. Wenn man aber die Pro-Kopf-Emission zugrunde legt, stehen wir deutlich schlechter da als China und Indien.Abgesehen davon: Klimaschutz wird die dominierende Rahmenbedingung für unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand sein. Und ich mache mir Sorgen, dass wir nicht mal bei den erneuerbaren Technologien eine Vorreiterrolle in Anspruch nehmen können. In Costa Rica basieren 98 Prozent der Stromversorgung auf erneuerbaren Energien. Bei uns liegt der Anteil der Erneuerbaren im Strom bei 38 Prozent und im gesamten Energiebereich bei gerade einmal 15 Prozent. Nein, wir haben keinen Grund, auf andere zu zeigen, wir müssen erst mal bei uns selbst anfangen.

ZEIT ONLINE: Stichwort Technologieführerschaft: Die Solar- und Windenergie wurden ja hoch subventioniert, beide Sparten sind heutzutage aber eher Sorgenkinder als große Wachstumsträger, oder?

Baerbock: Ja, das ist ein trauriges Kapitel. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde eingeführt, um die erneuerbaren Energien wettbewerbsfähig zu machen. Als sie günstiger wurden, haben diverse EEG-Novellen für Verunsicherung gesorgt. Ganze Technologien wurden aus dem Land getrieben. Ich habe das in Brandenburg erlebt: Dort wurden Hunderte neue Arbeitsplätze im Solarbereich geschaffen. Dann aber wurden über Nacht die Rahmenbedingungen so verändert, dass sich große solare Freiflächenanlagen, die vor allem in Ostdeutschland auf ausgedienten Militärflughäfen geplant waren, nicht mehr rechneten. Große Hersteller wanderten ab. Solarparks und Arbeitsplätze sind jetzt in Südspanien, Marokko oder halt China. Das darf uns mit der Windenergie nicht noch mal passieren.

ZEIT ONLINE: Ist das Schicksal der Solarindustrie nicht eher ein Beweis dafür, dass staatliche Subventionen in einer globalen Wirtschaft eben doch nichts ausrichten können? Dass es mit der Solarenergie so den Bach runterging, hat ja vor allem damit zu tun, dass chinesische Unternehmen den Markt mit Dumpingpreisen unterminiert haben.

Baerbock: Neue Technologien brauchen oftmals Anschubfinanzierung, um marktfähig zu sein. Europarechtlich gibt es dafür klare wettbewerbsrechtliche Grenzen. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass wir unsere industriepolitische Naivität ablegen müssen. Wenn andere Staaten ihre Unternehmen so subventionieren, dass es zum Dumping kommt, müssen wir in Europa dagegen vorgehen können. Das europäische Wettbewerbsrecht muss entsprechend auch für Drittanbieter gelten. Auf dem europäischen Markt muss sichergestellt werden, dass klimaschädliche Produkte aus dem Ausland nicht günstiger sind als die bei uns hergestellten klimafreundlichen. Für die 2020er-Jahre braucht es insgesamt eine Industriestrategie, die dafür sorgt, dass möglichst viele Klimainvestitionen bei uns stattfinden.

ZEIT ONLINE: Dafür soll der Staat nach dem Willen der Grünen viele Milliarden neue Schulden aufnehmen. Das Gros der Gesamtinvestitionen aber kommt ja aus der Privatwirtschaft. Wie wollen Sie den deutschen Wirtschaftsstandort so attraktiv machen, dass Unternehmen, auch ausländische, Lust haben, sich hier anzusiedeln?

Baerbock: Deutschland fährt auf Verschleiß, wir investieren deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Wenn wir den Umbau gestalten wollen, dann muss der Staat Infrastruktur, Bahnanbindungen, Forschung und Entwicklung voranbringen. Deshalb schlagen wir eine moderate Reform der Schuldenbremse vor, entlang der EU-Stabilitätskriterien. Öffentliche Investitionen sind auch Voraussetzung dafür, dass Unternehmen, egal ob inländische oder ausländische, investieren. In manchen Bereichen haben wir allerdings das Problem, dass ausländische Unternehmen, die nicht in vollem Umfang an europäisches Recht gebunden sind, in unsere kritische Infrastruktur einsteigen wollen. Das ist eine Gefahr für unsere Sicherheit.

„Uns geht es darum, die deutsche und die europäische Wirtschaft fit zu machen für das digitale und klimaneutrale Zeitalter.“
Annalena Baerbock

ZEIT ONLINE: Sie sprechen von Huawei. Aber ganz grundsätzlich beflügeln ausländische Direktinvestitionen doch unsere Wirtschaft durchaus, oder?

Baerbock: Klar braucht es auch Direktinvestitionen. Aber in sensiblen Bereichen dürfen wir kein Risiko eingehen. Bei Schlüsseltechnologien sollte es in unserem europäischen Interesse sein, dass diese auch noch in Zukunft in europäischer Hand liegen. Uns geht es darum, die deutsche und die europäische Wirtschaft fit zu machen für das digitale und klimaneutrale Zeitalter.

ZEIT ONLINE: Und wie wollen Sie das schaffen?

Baerbock: Indem wir den Unternehmen Planungs- und Rechtssicherheit sowie Innovations- und Investitionsanreize geben. Nehmen Sie die Stahlindustrie: Etwa die Hälfte der Hochöfen müssten dieser Zeit modernisiert werden, das ist nur alle 30 Jahre nötig. Wenn jetzt nicht klar ist, dass die Stahlproduktion der Zukunft CO2-frei sein muss, dann investieren die Unternehmen entweder gar nicht oder vielleicht doch noch mal in die alte Technologie. Deshalb sagen wir: Es braucht Quoten für den Einbau von klimaneutralem Stahl. Dann wissen die Stahlkonzerne, dass ihre Investition sich lohnt, und sie haben einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Anbietern aus China oder den USA.

ZEIT ONLINE: Sie werben mit Planungs- und Rechtssicherheit, die USA etwa locken private Investoren mit niedrigen Unternehmenssteuern. Man kann sich vorstellen, was deren Wachstumsfantasien mehr beflügelt, oder?

Baerbock: Es geht in der Politik nicht um Fantasien, sondern um eine zukunftsfeste Wirtschaftspolitik. Eine pauschale Senkung von Unternehmenssteuern ist nicht der richtige Weg, zumal sie von Präsident Trump ja mit massiver Androhung von Wirtschaftssanktionen verbunden ist. Ich halte andere Dinge für sinnvoller. Wir sollten zum Beispiel Start-ups über einen Fonds für Wagniskapital unterstützen und für unternehmerische Investitionen, die CO2-mindernd sind, eine degressive Abschreibung einführen.

ZEIT ONLINE: Die Grünen fordern eine neue Wirtschaftspolitik, bei der das Wachstum nicht mehr im Mittelpunkt steht. Plädieren Sie wirklich dafür, dass die Wirtschaft schrumpfen sollte?

Baerbock: Ich plädiere für ein anderes Wachstum. Denn es ist ja kein Selbstzweck. Bisher ist unser Wirtschaftswachstum blind. Es zielt vor allem darauf, immer mehr fossile Rohstoffe zu verbrauchen, immer mehr Dinge schnell wegzuwerfen, also Müll zu produzieren. Deswegen müssen neue Indikatoren wie Ressourcenverbrauch, Einkommensverteilung und Bildung hinzukommen, um auch die Lebensqualität zu messen. Und ja: Manche Bereiche müssen schrumpfen, nämlich die, die unsere Lebensgrundlage zerstören. Andere Sparten dagegen müssen wachsen, Windkraft zum Beispiel oder Wasserstofftechnologie.

ZEIT ONLINE: Ein Kandidat für Schrumpfung ist aus Sicht der Grünen ja die Automobilindustrie. Bis 2030 wollen Sie den Verbrennungsmotor verbieten. An dem hängen aber drei bis neunmal so viele Jobs wie an einem E-Motor. Wie verträgt sich das für die Betroffenen mit dem Anspruch auf Lebensqualität, den Sie bei der Messung der Wirtschaftsleistung stärker berücksichtigt sehen wollen?

Baerbock: Die Autoindustrie steckt schon mitten im Umbruch, so oder so, weltweit. Die globalen Absatzzahlen zeigen, dass ein Scheitelpunkt überschritten ist, die Menschen fahren weniger Auto, wollen aber mehr Mobilität. Diesen Trend haben die deutschen Automobilbauer zu lange ignoriert. Und ja, die Arbeitsplatzstruktur in der Automobilindustrie wird sich ändern, es wird weniger Arbeitsplätze beim Bau von Motoren geben, aber mehr im Bereich als Mobilitätsdienstleister.

ZEIT ONLINE: Trotzdem waren in Deutschland 2019 ein Drittel der neu zugelassenen Autos SUVs und Geländewagen. Wie bekehren Sie den SUV-Fahrer in Berlin-Prenzlauer Berg, keinen SUV mehr zu kaufen?

Baerbock: Ich muss nicht den SUV-Fahrer in Prenzlauer Berg bekehren, Bekehrungspolitik ist eh nicht meins. Aber ich brauche klare Vorgaben für die Automobilindustrie, damit sie saubere und bezahlbare Familienautos auf den Markt bringt. Wenn ich heute in Deutschland in ein Autohaus gehe und sage, ich würde gern ein E-Auto eines deutschen Herstellers kaufen, in das noch zwei Kindersitze reinpassen, dann muss ich darauf anderthalb Jahre warten. Deswegen wollen wir eine E-Quote einführen – Autohersteller würden verpflichtet, einen bestimmten Anteil an E-Autos zu produzieren, damit die Absatzzahlen nach oben gehen. Schwere, spritfressende Autos müssen zudem stärker besteuert werden als energiesparende. Sie verbrauchen ja nicht nur viel, sondern nehmen auch viel Platz in den Städten weg.

ZEIT ONLINE: Ende des vergangenen Jahres haben die Grünen der großen Koalition eine Erhöhung der CO2-Preise abgetrotzt – auf 55 Euro pro Tonne ab 2025. Nach Ihrem eigenen, auf Ihrem Parteitag beschlossenen Modell, müsste der Preis 2022 bereits bei 100 Euro liegen. Werden Sie mit dieser Forderung in den nächsten Wahlkampf ziehen?

Baerbock: Durch unser entschiedenes und geschlossenes Verhandeln im Bundesrat haben wir aus der Opposition heraus erreicht, dass der Preis überhaupt eine klimarelevante Lenkungswirkung bekommt. Und das, obwohl der Preis schon von Union und SPD beschlossen war. Jetzt startet er bei 25 Euro statt 10 und steigt auf 55 an. Das ist nicht der reine grüne Parteitagsbeschluss. Aber ich kann nicht eineinhalb Jahre bis zur Wahl die Hände in den Schoß legen. Für solche parteitaktischen Spielchen ist die Dramatik der Klimakrise zu groß.

„Für mich ist klar, dass es mit dem Klimaschutz nur etwas wird, wenn er auch für den Baggerfahrer im Tagebau funktioniert.“
Annalena Baerbock

ZEIT ONLINE: Bleibt es also bei dem, was jetzt beschlossen wurde oder werden die Grünen sich, wenn sie ab 2021 mitregieren sollten, dafür einsetzen, dass der CO2-Preis bis 2025 deutlich stärker ansteigt?

Baerbock: Bisher hat der Preis noch nicht die Lenkungswirkung, die er eigentlich bräuchte. Deshalb sollte er nach der Einführung überprüft und entsprechend auch den Entwicklungen auf europäischer Ebene angepasst werden. Wir haben dafür eine Kommission vorgeschlagen, die den Preis auf seine sozialen und die Klimaauswirkungen überprüft. Das halte ich für sinnvoll.

ZEIT ONLINE: In der Gesellschaft entwickelt sich beim Klimathema inzwischen fast so etwas wie ein Kulturkampf: Zwischen Greta-Hassern und Greta-Fans, Vegetariern und Fleischessern, Ökoaktivisten und denen, die sagen: "Jetzt erst recht!" Was kann man dagegen unternehmen?

Baerbock: Ich erlebe diese Filterblasen und den Hass vor allem im Netz, weniger, wenn ich tagtäglich bei mir in Brandenburg unterwegs bin. Und ich glaube, wir alle müssen aufpassen, dass wir die sozialen Medien nicht mit dem realen Leben verwechseln. Gerade im Alltag müssen wir wieder stärker den Dialog suchen. Ich versuche daher viel dort zu sein, wo Menschen eine andere Lebensrealität haben als ich. Wenn ich in der Kohleregion der Lausitz unterwegs bin, sagen natürlich nicht alle: "Schön, dass Sie da sind, Frau Baerbock." Nein, mit den Kohlebergbauern habe ich oft richtig hitzige Diskussionen. Aber trotzdem bin ich bereit, zuzuhören. Vielen dort ist natürlich auch klar, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Aber ebenso klar ist für mich, dass es mit dem Klimaschutz nur etwas wird, wenn er auch für den Baggerfahrer im Tageabbau funktioniert.

ZEIT ONLINE: Und? Was sagen Sie dem Baggerfahrer in der Niederlausitz, der durch den Kohleausstieg seinen Job verliert?

Baerbock: Dass, wenn wir es gemeinsam anpacken, er in gut zehn Jahren zwar keinen Kohlebagger mehr fahren wird, aber der heutige Kohlekonzern LEAG zum Energiekonzern umgebaut ist und er im Heizkraftwerk, der Energiewartung oder in der Maschineninstandhaltung beschäftigt ist. Die Kohlekommission unter Einbeziehung von Gewerkschaften, Umweltverbänden und Energieversorgern hat für diesen Umbau in den Regionen und der Arbeitsplätze ja einen guten Fahrplan entwickelt, es steht viel Geld bereit. Aber nach fast einem Jahr gibt es immer noch kein Ausstiegsgesetz. Das verunsichert die Leute in der Region.