„Deutschland denkt zu klein, das ist zu anspruchslos“

Wenn sich die Grünen zum Parteitag in Bielefeld versammeln, blicken sie auf ein bislang höchst erfolgreiches Jahr zurück, aber Grüne und Wirtschaftspolitik? Wo Robert Habeck seine Partei bei diesem Thema sieht, erklärt er im Interview mit WELT.
Erstveröffentlichung in DIE WELT am 14.11.2019
Von Ulf Poschardt, Ansgar Graw
WELT: Herr Habeck, wie schwer ist eigentlich für die grüne Partei, die sich als links und kapitalismuskritisch versteht, ein ganz pragmatischer Umgang mit dem Thema Wirtschaft?
Robert Habeck: Das ist gar nicht schwer für uns. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir uns auf einem Parteitag mit Wirtschaft beschäftigen und dazu einen ausführlichen Antrag vorlegen. Und dann gibt es die Arbeit in der grünen Politik in den Ländern. Tarek Al-Wazir ist in der zweiten Legislaturperiode Wirtschaftsminister in Hessen, und jeder in Hessen sieht, dass die Grünen Wirtschaftskompetenz haben – ebenso wie bei Ramona Pop in Berlin. Winfried Kretschmann gilt als wirtschaftsfreundlicher Ministerpräsident. Richtig ist allerdings, dass Wirtschaftskompetenz nicht heißt, sofort jeden Wunsch der Wirtschaft zu erfüllen. Und es ist auch ein starker Veränderungsimpuls dabei. Da gibt es natürlich auch immer wieder Gerangel.
WELT: Was soll verändert werden?
Habeck: Fritz Kuhn (Oberbürgermeister von Stuttgart, d. Red.) hat mal gesagt: mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben. Ich würde es heute so formulieren: durch innovative Formen von Wertschöpfungsmodellen Wohlstand sichern, indem wir den Ressourcenverbrauch drastisch reduzieren und Umwelt und Klima schonen. Das bedeutet natürlich eine andere Regulierung und andere Anreize, als wir sie heute haben. Deswegen werden bestimmte Unternehmen das immer ablehnen. Und wahrscheinlich werden immer bestimmte Journalisten schreiben: Ah, können die Grünen wirklich Wirtschaft? Ja, können wir, halt mit einer eigenen politischen Handschrift.
WELT: Bei der Grünen Jugend gibt es weiterhin die klare Forderung: Wir müssen den Kapitalismus überwinden. Grüne Klimaschutzaktivisten wie Luisa Neubauer berufen sich einerseits auf die Marktwirtschaft, formulieren aber andererseits eine fundamentale Absage an dieses System.
Habeck: In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Unser Antrag zieht da eine, wie ich finde, sehr gerade Linie. Er bekennt sich zu den Prinzipien der Marktwirtschaft, weil marktwirtschaftliche Prozesse am effektivsten sind, um Kreativität auszulösen und Innovationen nach vorne zu bringen. Andererseits bedeutet Markt auch, Regeln zu befolgen. Das entspricht dem Geist der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard.
Heute müssen wir zusätzlich ökologische Aspekte berücksichtigen. Entsprechend müssen diese Regeln neu geeicht werden. Darum sprechen wir von einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Aber dafür braucht es ein breites Arsenal politischer Möglichkeiten, also Regulatorik und Ordnungsrecht, Preisanreize und Förderung. Man kann darüber debattieren, welcher Anteil in welchem Maß richtig ist. Aber wir zielen eindeutig auf eine reformierte Marktwirtschaft.
„Märkte müssen der Gesellschaft dienen, den Menschen. Sie sind kein Selbstzweck.“
WELT: Das ist Konsens bei den Grünen bis hin zur Parteilinken?
Habeck: In einzelnen Punkten werden wir sicher Kampfabstimmungen bekommen. Es gibt auch Anträge, wir sollen den positiven Bezug zum Begriff „Markt“ streichen. Aber der Bundesvorstand ist da klar: Wir brauchen die Märkte, mit einem festen Rahmen. Märkte können wie ein Spürhund sein, sie finden die richtige Lösung. Aber jeder Spürhund braucht eine Spur, sonst kann er die Fährte nicht finden, sondern rennt kreuz und quer, und im schlimmsten Falle beißt er alles nieder. Die Spur, die wir legen, ist, dass Märkte der Gesellschaft dienen, den Menschen. Sie sind kein Selbstzweck. Dieses Verständnis ist in den letzten 30 Jahren ziemlich aus den Augen geraten.
WELT: Warum?
Habeck: Weil Politik nach 1989, nach dem Sieg des Kapitalismus, im Überschwang meinte: Je weniger Regulierung, desto besser für die Gesellschaft. Wir haben einen Preis dafür bezahlt. Staatliche Institutionen sind geschwächt. Mangelnde Regulierung der Banken hat eine weltweite Finanzkrise ausgelöst, die wirtschaftlich dramatische Folgen hatte und das Vertrauen in die Demokratie geschwächt hat. Es sind in der digitalen Welt große Monopole entstanden, die sich einer Regulierung und einer sachgerechten Besteuerung entziehen.
WELT: Sie nannten Ludwig Erhard, aber seinen Namen haben wir nicht im Papier gefunden
Habeck: Ein Parteitagsantrag ist ja auch kein Telefonbuch.
WELT: Den Namen des Grünen-nahen Ökonomen Nicholas Stern nennen Sie schon. Sie fordern die sozial-ökologische „Neubegründung der Marktwirtschaft“ mit so vielen Regulierungen, dass es an vielen Stellen eher nach einem neuen System klingt.
Habeck: Wir brauchen ja auch umfassende Korrekturen. Der „sozialen Marktwirtschaft“ ist ja das „Soziale“ teilweise abhandengekommen. Der Niedriglohnsektor ist zu groß, die Mindestlöhne sind zu niedrig. Das wollen wir anders machen. Und der Begriff Neubegründung bezieht sich auf den ökologischen Aspekt. Da muss eine neue Logik hergestellt werden.
Im Moment ist es doch so: Je mehr Autobahn wir bauen, je mehr Öl wir verbrennen, umso besser fürs Bruttoinlandsprodukt, und das wird als Gradmesser für unser Wohlergehen genannt. Das kann nicht mehr sein. Noch mal: Der Raum für Wettbewerb, Innovationskraft, Kreativität, Freiheit bleibt, nur müssen die Leitplanken richtig gesetzt werden.
WELT: Nur werden die Leitplanken arg eng gesetzt: Mindesthonorar für Selbstständige, Mitbestimmungsrechte ausweiten, eine Frauenquote auch für die Vorstände privater Unternehmen. Sie sagen, dass Markt gut ist, und dann schränken Sie ihn nur noch ein.
Habeck: Bei diesem Gegensatz gehe ich nicht mit. Märkte brauchen Regulierung, sonst gibt es keinen Wettbewerb. Viele kleine Gewerbetreibende zum Beispiel können es sich nicht leisten, nicht bei Amazon vertreten zu sein, und werden dadurch voll abhängig. Ein solches Quasi-Monopol muss man regulieren, sonst beendet Monopolisierung die Marktwirtschaft. Was das Mindesthonorar für Selbstständige angeht: Auch Solo-Selbstständige müssen doch von der Hände Arbeit leben können.
WELT: Ein Beispiel: Von WELT bis „taz“ gingen Abos verloren, weil es wegen des Mindestlohns den klassischen Zustelldienst nicht mehr gibt.
Habeck: Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro, die wir fordern, entspricht der Summe, die man braucht, um bei Vollerwerb im Alter nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Ich finde, es ist nicht gerechtfertigt, Zustellern weniger zu bezahlen. Ein höherer Mindestlohn ist sozial gerecht, und er würde im Übrigen die Binnenkonjunktur ankurbeln, weil die Menschen das Geld ausgeben.
WELT: Aber nur, wenn Unternehmer das entsprechende Produkt trotz der höheren Produktionskosten weiter anbieten und damit die Mindestlohnempfänger ihren Job behalten.
Habeck: Diese Diskussion gibt es immer wieder. Darum finden wir es ja richtig, dass der Mindestlohn über eine Kommission festgelegt wird, die derlei Aspekte beachtet. Nur haben wir gesehen, dass die Kriterien, die die Mindestlohn-Kommission hat, nicht ausreichend waren, um Armut zu verhindern. Darum brauchen wir einen einmaligen Sprung auf zwölf Euro. Wenn es so läuft, wie wir uns das vorstellen, soll danach wieder eine Kommission über die weitere Entwicklung entscheiden.
Obwohl so viele Menschen in Deutschland beschäftigt sind wie selten zuvor trügt das Bild. Denn Hunderttausende sind auf die Hilfe des Staates angewiesen. Der Grund – die Art des Beschäftigungsverhältnisses.
WELT: Ihr Ziel ist also auch die Ankurbelung der Binnenkonjunktur?
Habeck: Ja. Die komplette Ausrichtung des deutschen Wohlstandes auf den Export macht uns extrem anfällig für die Folgen von Handelskriegen oder für einen Rückgang der amerikanischen Nachfrage. Deswegen macht es Sinn, die Binnennachfrage, also das Kapital, das man im Inland ausgeben kann, zu erhöhen. Auch das spricht dafür, die Mindestlöhne höher zu setzen, den Niedriglohnsektor zu reduzieren und mehr in Deutschland zu investieren, um diesen Exportüberschuss nicht zu groß werden zu lassen.
WELT: Wäre das eine Renationalisierung unserer Wirtschaft?
Habeck: Im Gegenteil, der bisherige Exportüberschuss ist eine Nationalisierung unseres Außenhandels. Wir sanieren unseren Haushalt und gründen unseren Wohlstand im gewissen Sinne auf Kosten unserer Nachbarn. Das wird von denen als extrem unsolidarisch empfunden.
„Um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu beflügeln, brauchen wir große öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Mobilität, Netze, Breitband, Bildung, Forschung und Entwicklung.“
WELT: Die Leute kaufen, wenn die Wirtschaft boomt und der Arbeitsplatz sicher ist. Das gelingt bislang durch Exporte.
Habeck: Bislang ging das, weil die USA unsere Güter gekauft haben. Jetzt aber versuchen sie, weniger zu importieren. Hinzu kommt die aggressive Expansionspolitik Chinas, die unsere Märkte unter Druck setzt, wenn Sie an die neue Seidenstraße denken. Wir wirtschaften also schon jetzt in einem global veränderten Umfeld. Und viel spricht dafür, dass dies erst der Anfang ist.
Hinzu kommen demografischer Wandel und Digitalisierung, neue Branchen entstehen, die alten Geschäftsfelder geraten unter Druck. Wir haben die doppelte Herausforderung, den Dienstleistungssektor zu stärken und den industriellen Kern der deutschen Wirtschaft fit zu machen. Das sind in Deutschland vor allem die Automobilindustrie, der Maschinenbau und die chemische Industrie …
WELT: … und die liegen den Grünen alle drei besonders am Herzen.
Habeck: In der Tat, ich würde mich freuen, wenn sie prosperieren würden. Aber gerade die Nachfrage nach Autos hat weltweit möglicherweise einen Peak erreicht. Wenn die Automobilindustrie nicht in dem Maße die Absätze steigert, dann frisst sich die Krise in das industrielle Herz Deutschlands. Es muss sich also etwas ändern, um Europa und Deutschland als Industriestandorte auf die Höhe der Zeit zu bringen.
Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit, die ihnen die Bundesregierung aber nicht gibt. Um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu beflügeln, brauchen wir große öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Mobilität, Netze, Breitband, Bildung, Forschung und Entwicklung. Auch in anderen Bereichen sind wir nicht spitze, in der digitalen Wirtschaft, der Kreativwirtschaft, der Filmindustrie …
WELT: Filmindustrie und Dienstleistungssektor gibt es nur, wenn irgendwo das Geld dafür zuvor erwirtschaftet wurde. Wenn Sie Kohle verkaufen oder Öl oder Autos.
Habeck: Das ist doppelt falsch. Es ist doch eine überholte Sicht, dass nur das produktiv ist, was Güter produziert. Dienstleistungen und Kulturangebote sind Wirtschaftsmodelle aus sich selbst heraus. Sie generieren Umsatz. Und das Zeitalter der fossilen Energien ist vorbei. Nur eine klimaneutrale Wirtschaft wird überhaupt eine Zukunft haben. Deshalb müssen Politik und Industrie in Alternativen denken. Der Verkauf von Autos geht global zurück, aber die Nachfrage nach Mobilität wird immer höher.
Also sollte sich die deutsche Automobilindustrie verändern und innovative Mobilitätsangebote bringen – Bus, Bahn, Carsharing vernetzen, damit man bequem und ohne Staus von A nach B kommt. Um das hier im Binnenland zu erproben, brauchst du aber schnelles Internet, brauchst du eine europäische Cloud, die die nötigen Daten schützt und sicherstellt, dass die Technik nicht ausspioniert werden kann. Aber noch nicht mal die haben wir, sodass wir sensibelste Daten auf außereuropäischen Servern speichern.
WELT: Woher kommt das Geld dafür, wenn die Grünen weltweit weniger Autos sehen möchten?
Habeck: Wenn Sie meinen: Wie wollen wir die nötigen Investitionen stemmen, dann sage ich, wir wollen die Schuldenbremse zeitgemäß reformieren, also an die europäischen Stabilitätsregeln anpassen. Wir könnten dann jährlich 35 Milliarden investieren. Das Geld würden wir in einen Fonds packen, ihn der Jährlichkeit des Haushalts entziehen und damit antizyklische Fiskalpolitik betreiben, also gegen die Krise anarbeiten. Das Geld kommt also von Anlegern, die faktisch dafür bezahlen, dass sie uns Geld leihen dürfen. Das bedeuten negative Zinsen ja. Es ist ökonomisch unvernünftig und uneuropäisch, das nicht zu nutzen.
WELT: Bei der Digitalisierung sind wir völlig abgehängt von den USA und von China. Selbst in Europa sind wir bestenfalls Mittelmaß. Den Rückstand kann man entweder mit staatlichen Interventionen, Subventionen und Dirigismus aufholen – oder durch eine Gesellschaft, in der Entrepreneurtum wertgeschätzt wird. Aber die Grünen sind über Jahrzehnte technikskeptisch, sie haben ganz im Geiste Heideggers alles abgelehnt, was innovativ war.
Habeck: Wir waren schon für neue Energien, für Windkraft, für Fotovoltaik, für den elektrischen Antrieb, die Umstellung der Industrie auf Wasserstoff, LED-Leuchten, als andere noch neue Kohlekraftwerke genehmigt haben.
WELT: Die Frage ist: Wie wollen die Grünen Unternehmertum fördern, wie aufschließen zu China oder den USA?
Habeck: Der europäische Weg muss ein anderer sein. Weder ein Staatskapitalismus wie in China noch eine Deregulierung wie in den USA ist unser Weg …
„Nachhaltigkeit wird zu einem Geschäftsmodell, wenn man es zulässt. Das sehen wir auch an den Start-ups, die für eine grüne Wirtschaft lauter marktfähige Ideen entwickeln. Da wollen wir den Gründergeist stärken.“
WELT: Unternehmer wollen Deregulierung.
Habeck: Manche ja. Andere wollen Investitionssicherheit und brauchen dafür Regulierung. Die deutsche, ja die europäische Stahlindustrie steht unter Druck, weil sie im globalen Dumping-Wettbewerb nicht mithalten kann. Wissen Sie, was ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern kann? Durch eine Vorgabe für den Einbau von klimaneutralem Stahl. Deutsche Unternehmen fangen ja an, den zu entwickeln.
Hätte man eine europäische Quote für klimafreundlichen Stahl, schöbe man Billigstahl aus China einen Riegel vor. Nachhaltigkeit wird zu einem Geschäftsmodell, wenn man es zulässt. Das sehen wir ja auch an den Start-ups, die für eine grüne Wirtschaft lauter marktfähige Ideen entwickeln. Da wollen wir den Gründergeist stärken.
WELT: Wie soll das gehen?
Habeck: Wir wollen Gründern ein Gründerkapital anbieten: Jedem stehen einmal im Leben 25.000 Euro zu. Wer eine Idee hat für eine Unternehmensgründung, egal in welchem Bereich und mit welcher Stoßrichtung, bekommt unbürokratisch dieses Geld als Darlehen. Ganz liberal. Tun sich vier Freunde mit einer Idee zusammen, sind es schon 100.000 Euro.
WELT: Und die zweite Idee?
Habeck: Wir schlagen vor, dass der Staat jungen Start-ups, die in der ersten Phase erfolgreich waren, aber noch eine Art Welpenschutz brauchen, eine stille Einlage anbietet, ganz ohne Einfluss auf das Unternehmen. Damit kann verhindert werden, dass das Unternehmen aus dem Ausland übernommen wird, beispielsweise von einem Internet-Giganten aus den USA oder China. Außerdem sollten wir Europa als Binnenmarkt stärken, anstatt immer auf einen deutschen Binnenmarkt oder einen französischen oder einen schwedischen Binnenmarkt zu schauen.
WELT: Wie stärkt man Europa gerade jetzt, wo Europa so geteilt ist?
Habeck: Indem sich die Bundesregierung mal richtig dahinterklemmt. Europa muss sich auf gemeinsame Standards einigen, etwa beim 5G-Ausbau. Deutschland könnte in der EU als stärkste Wirtschaftsmacht Europas vorangehen, sein Telekommunikationsgesetz ändern und sagen: Wir akzeptieren nur Anbieter, in deren Produkten es keine Hintertüren gibt und die sicherstellen, dass Krankenhäuser, Energieinfrastruktur, Schienenwege nicht gehackt und angegriffen werden können.
Das würde belegt durch Zertifizierungen, die eine unabhängige Behörde ausstellen und überprüfen muss – am besten das Ganze dann europäisch. Außerdem müssen wir die europäische Währung und die Währungsunion zu einer Fiskalunion ausbauen. Das heißt, der Euro sollte zu einer Leitwährung werden, damit andere Staaten ihre Devisen im Euro anlegen.
WELT: Sind denn europäische Netzausrüster beim 5G-Ausbau überhaupt in der Lage, den chinesischen Marktführer Huawei zu ersetzen? Oder müssten wir uns von ambitionierten Ausbauplänen verabschieden?
Habeck: Nokia und Ericsson haben die Technik und bauen auch viel in den USA und in Asien. Möglicherweise könnten die nicht gleich in der Geschwindigkeit mitgehen. Aber das ist eine ganz zentrale Frage: Wir bauen 5G nur einmal. Wollen wir uns da nicht zur Not etwas mehr Zeit lassen? Und dafür bekommen wir die Sicherheit einer zertifizierten Technik?
Wenn wir schneller sein wollen und beispielsweise Huawei machen lassen, bauen wir uns eine Infrastruktur auf, von der wir nicht wissen, ob sich chinesische Spionageeinheiten die Zugangscodes für ein deutsches Netzwerk erschleichen, wie es in Australien passiert ist. Wenn Daten abgegriffen oder gar manipuliert werden, drohen Blackouts, Eingriffe in die Wasserversorgung, Verkehrssicherheit, in die Medikamentenversorgung.
Der Videoplayer Magenta TV der Deutschen Telekom beherbergt eine Sicherheitslücke. Apple-Nutzer sollten sich daher genau überlegen, ob sie das notwendige Plug-In für die Software installieren.
WELT: Die Grünen sprechen sich gegen Freihandelsverträge wie Ceta zwischen der EU und Kanada aus. Das ist grüner Protektionismus, oder?
Habeck: Wir wollen globalen Handel und Warenaustausch. Aber wir wollen, dass global verabredete Standards zum Beispiel im Sinne des Pariser Klimaabkommens gelten. Das ist ein Ernstnehmen eines Abkommens, mit dem wir die CO2-Emissionen reduzieren wollen.
WELT: Aber Ihnen geht es nicht nur um das Klimaabkommen, sondern auch um fairen Handel und alle möglichen anderen Kriterien. Sie sind mit Donald Trump und Nigel Farage und anderen auf einer Linie, dass das Ceta-Abkommen nichts taugt.
Habeck: Da widerspreche ich ausdrücklich. Donald Trump mit seinem „America First“ treibt einen Nationalismus voran, der sich um den Rest der Welt nicht schert. Wir wollen die Vernetzung innerhalb der Welt, aber mit gültigen Standards. Wir haben doch globale Standards, Arbeitsnormen zum Beispiel oder eben das Klimaabkommen. Sie müssen aber wirken. Für Freihandelsabkommen heißt das: Bei Verstößen gibt es Sanktionen. Dann kann beispielsweise ein Produkt nicht eingeführt werden, für dessen Produktion der Regenwald gerodet wurde.
WELT: Stichwort Daten: Sollten aus Sicht der Grünen die großen Technologiekonzerne Google, Amazon, Facebook und Apple regulatorisch eingeschränkt werden?
Habeck: Daten sind auf jeden Fall ein ganz wichtiger Rohstoff in der neuen Ökonomie. Entsprechend setzen wir uns dafür ein – und in meiner Zeit als Minister haben wir das auch schon auf den Weg gebracht –, dass die öffentlichen Daten, die bei deutschen oder europäischen Behörden gesammelt wurden, anonymisiert, aber als Open Source Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Da geht es etwa um Wetterdaten, Umweltdaten,Verkehrsdaten. Es gibt in den öffentlichen Verwaltungen einen großen Datenschatz. Und was die Internetgiganten angeht, bin ich für die Schaffung einer neutralen öffentlich-rechtlichen Plattform, die für Kommunikation und soziale Netzwerke aller Art zur Verfügung steht, also auch für Alternativen zu Facebook und Co.
WELT: Warum nicht privatwirtschaftlich? Private Unternehmen könnten es viel besser. Das ist ein Markt. Und Öffentlich-Rechtliches haben wir schon genug.
Habeck: Die Plattform stünde allen offen, sie sollte aber eben nicht werbebasiert sein. Im Augenblick animieren ja Algorithmen Menschen dazu, möglichst viele Daten zu hinterlassen. Das ist das systemische Grundproblem bei Twitter und Facebook.
WELT: Man könnte ja auch Abo-Modelle anbieten, ganz ohne Werbung. Aber sehen Sie eine Möglichkeit, die großen Technologiekonzerne tatsächlich zu regulieren?
Habeck: Selbstverständlich. Das fängt bei der Besteuerung an. Diese global tätigen Unternehmen zahlen ja minimale Steuern in nur wenigen Ländern. Darum brauchen wir ein anderes Steuerrecht, das sich am Umsatz orientiert.
WELT: So, wie es Frankreich mit der Digitalsteuer getan hat?
Habeck: Genau. So etwas europäisch einzuführen wäre richtig gewesen. Olaf Scholz hat das abgelehnt, wohl aus Angst vor Handelskonflikten mit den USA. Emmanuel Macron hat es sich getraut. Jetzt kassiert Frankreich von Facebook, Google und Co., Deutschland nicht.
Das meinte ich eben beim europäischen Binnenmarkt: Europa wartet auf Deutschland, und Deutschland sagt: Nee, wir kümmern uns um unseren kleinen Bauernhof. Wir denken zu klein, das ist zu anspruchslos. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, ein bisschen mehr Vertrauen in europäischen Patriotismus und Solidarität, das würde vor allem Deutschland nutzen.