Interview

„Der Klimaschutz ist eine historische Chance für unsere Wirtschaftspolitik“

Ökowachstum, wie geht das? Grünen-Chefin Annalena Baerbock und BDI-Chef Dieter Kempf streiten über den richtigen Weg zu mehr Umweltschutz und Wohlstand.

Erstveröffentlichung in WirtschaftsWoche online am 13.06.2019

Von Elisabeth Niejahr und Cordula Tutt

WirtschaftsWoche: Herr Kempf, Sie hatten Frau Baerbock gerade bei Ihrer BDI-Jahrestagung zu Gast. Mal angenommen, es käme zur Gegeneinladung, und Sie würden beim Grünen-Parteitag auftreten: Was würden Sie sagen?

Dieter Kempf:
Ich würde erklären, dass die Interessen der Industrie und ökologischer Fortschritt keine Gegensätze sind. Deutsche Unternehmen sind weltweit als Problemlöser gefragt. Aber wir müssten uns auch eingestehen, wo wir noch sehr weit voneinander entfernt sind, und nicht nur Nettigkeiten austauschen.

WirtschaftsWoche:
Was wäre für einen BDI-Präsidenten heutzutage besser bei so einem Auftritt: Beifall oder Buhrufe?

Kempf:
Ich vermute mal, dass so ein Besuch kein Heimspiel wäre. Aber ich kann Ihnen versichern: Ein Auftritt auf dem Katholischen oder Evangelischen Kirchentag - beides habe ich schon hinter mir – ist für einen BDI-Präsidenten auch nicht ohne. Wo die Grünen Verantwortung übernehmen, wollen wir ins Gespräch kommen, und zwar konstruktiv, um den Industriestandort zu stärken.

Annalena Baerbock:
Ich finde wichtig, Argumente zu hören, die einen herausfordern. Für mich ist schon sehr lange klar, dass sich Ökonomie und Ökologie gegenseitig bedingen. Wir wollen dafür sorgen, dass man mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben kann. Oft ist das heute schon der Fall. Aber wir müssen die politischen Bedingungen so ändern, dass es immer so ist.

„Viele Unternehmen sehen, dass Klimaschutz das stabilere Wachstumsmodell bedeutet.“
Annalena Baerbock

WirtschaftsWoche: Wie gut kennen Sie sich? Herr Kempf, haben Sie die Handynummer von Frau Baerbock?

Kempf: Nein. Aber wir würden uns, falls nötig, über unsere Büros sehr schnell erreichen. Persönlich ausgetauscht haben wir uns in den vergangenen Monaten fünf- oder sechsmal.

Baerbock: Schon in meiner Zeit als klimapolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion hatte ich oft mit Industrievertretern und mit dem BDI zu tun. Im Moment mache ich da drei Erfahrungen: Erstens wird die Schnittmenge eher größer. Viele Unternehmen sehen, dass Klimaschutz das stabilere Wachstumsmodell bedeutet. Zweitens: Sobald es konkret wird, sind die Vorstellungen sehr unterschiedlich, die Wirtschaft gibt es nicht. Drittens: Die Unternehmen wollen politische Verlässlichkeit. Da diese fehlt, sind viele von der Regierung gefrustet. Ich auch.

WirtschaftsWoche: Herr Kempf, Sie werfen der Kanzlerin mangelnde Klarheit in der Klimapolitik vor. Wären Sie mit den Grünen besser dran?

Kempf: Von der Regierung würden unsere Unternehmen in der Tat gern genauer erfahren, wie sie ihre klimapolitischen Ziele erreichen will. Ob die Schnittmenge mit den Grünen wirklich wächst, lässt sich momentan noch nicht absehen. Ich warne die Partei davor, neben der ökologischen die ökonomische Basis für den Wohlstand zu unterschätzen. Frau Baerbock hat auf dem Tag der Industrie sehr enthusiastisch von Marktwirtschaft gesprochen. Das fand ich gut.

Baerbock: Ohne Freiraum für neue Ideen, für Unternehmergeist und Sprunginnovationen werden wir die ökologischen Herausforderungen nicht in den Griff bekommen. Dafür wollen wir einen Wettbewerb, bei dem der Innovativste sich durchsetzt. Aber dieser Wettbewerb kann sich nur entfalten, wenn es einen Rahmen gibt, im Sinne einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Die Unternehmer und Unternehmerinnen müssen wissen, wohin die Reise gehen soll. Da helfen klares Ordnungsrecht und ökonomische Anreize. Eine Wirtschaft, die die ökologischen Grundlagen zerstört, wird auch ökonomisch keinen Erfolg haben.

Kempf: Umgekehrt stimmt es aber auch! Leider schlagen sich durchaus nachvollziehbare Nachhaltigkeitsziele oft in Gesetzen nieder, die unsere Industrie international ins Abseits drängen. Ich warne vor grünem Wunschdenken. Wenn sich Konkurrenten aus Drittstaaten durchsetzen, weil sie sich nicht an unsere hohen Standards halten müssen, ist weder der Umwelt noch den Menschen geholfen. Nehmen Sie das Beispiel 'Grüner Knopf' ...

WirtschaftsWoche: ... das Gütesiegel, das der Entwicklungshilfeminister für Kleidung einführen will, deren Produktion soziale und ökologische Mindeststandards erfüllt.

Kempf: Das mag gut gemeint sein, ist aber in der betrieblichen Praxis völlig unrealistisch. Die meisten Menschen wissen gar nicht, wie viele verschiedene Materialien allein ein Hemd enthält. Es ist für Unternehmen kaum möglich, jeden Prozess in der Wertschöpfungskette lückenlos zu kontrollieren. Dabei produzieren deutsche Unternehmen nach den weltweit höchsten Umwelt- und Sozialstandards.

WirtschaftsWoche: In anderen Worten: Sie sind dagegen.

Kempf: Ja, weil es den Missstand, den man lösen möchte, eben nicht löst. Stattdessen will die Politik das Problem einseitig den Unternehmen in die Schuhe schieben. Dafür ist unser Weltmarktanteil von acht Prozent an den globalen Exporten zu gering.

Baerbock: Moment. Die Frage ist doch, ob wir mit unserem riesigen europäischen Markt nicht Standards setzen für Produkte, die hier verkauft werden. Zu Recht sagen immer mehr Menschen, sie wollen kein T-Shirt, das in einstürzenden Gebäuden genäht wird oder Geschenkartikel aus Kinderarbeit. Das Lieferkettengesetz ist überfällig.

Kempf: Zu glauben, wir könnten mit einem nationalen Gesetz weltweite Standards etablieren und sie sogar mit Einfuhrbeschränkungen durchsetzen, halte ich für naiv. Die Märkte im Rest der Welt sind Anbietern aus China groß genug.

Baerbock: Europa muss viel selbstbewusster auftreten. Nicht nur bei seinen Werten, sondern auch bei der Verteidigung des freien und fairen Wettbewerbs. Mit der Datenschutz-Grundverordnung haben wir doch gezeigt, dass wir Regeln aufstellen können, die von den großen Digitalkonzernen befolgt werden ...

WirtschaftsWoche: ... und die viele Mittelständler überfordert.

Baerbock: Richtig ist, dass die Bundesregierung die EU-Richtlinie so miserabel umgesetzt hat, dass es für kleine Unternehmen sehr kompliziert ist. Aber das heißt doch: Wir brauchen besseres nationales Handwerk, statt das Ziel der gemeinsamen europäischen Regulierung zu streichen. Die Erfahrung lehrt, dass gemeinsame Standards gerade die Industrie oft stärker machen. Denken Sie an REACH, die europäische Chemikalienverordnung. Nach viel Protest hat Europa einen weltweiten Standard geschaffen, der die Marktführerschaft unserer Unternehmen stützt.

Kempf: Rührt die Stärke vielleicht daher, dass unsere Chemieindustrie schon im vergangenen Jahrhundert weltweit führend war und nicht so leicht kaputtzukriegen ist? In der Digitalwirtschaft gibt es solche Vorsprünge leider nicht. Die größten chinesischen Plattformbetreiber sind mittlerweile annähernd so groß wie die Riesen aus dem Silicon Valley. Die Standards für diesen Bereich werden nicht automatisch in Europa gesetzt. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Europäer vereint Partner für weltweite Lösungen suchen, zum Beispiel innerhalb der G20.

Baerbock: Mein Anspruch ist ein anderer. Europa ist als Wirtschaftsraum immer noch größer als China. Und die deutsche und die europäische Industriepolitik hat jetzt mit dem Klimaschutz eine historische Chance, unsere Industrie im Bereich Energie, Mobilität und Infrastruktur zu den globalen Spielern der Zukunft zu entwickeln.

„Die grundsätzliche Idee, den CO2-Verbrauch marktwirtschaftlich zu steuern, finden wir richtig. Aber das funktioniert am besten mit globalen Vereinbarungen.“
Dieter Kempf

WirtschaftsWoche: Sollte Kohlendioxid lieber zu niedrigeren Kosten in anderen Teilen der Welt eingespart werden?

Kempf: Nein. Der BDI weist darauf hin, dass ein Instrument wie eine allgemeine CO2-Bepreisung in Verbindung mit anderen Instrumenten helfen kann, die Klimaziele zu erreichen, auch wenn der deutsche Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß nur bei zwei Prozent liegt. Die grundsätzliche Idee, den CO2-Verbrauch marktwirtschaftlich zu steuern, finden wir richtig. Aber das funktioniert am besten mit globalen Vereinbarungen. Was machen wir mit Autos, die mit chinesischem Stahl gebaut werden?Klimaschutz über Einfuhrzölle - das ist nicht praktikabel, schon gar nicht in einem Zeitalter mit wachsendem Protektionismus.

Baerbock: Warum? Wenn deutsche Stahlhersteller sich auf den Weg machen, klimaneutral Stahl zu produzieren, ist das eine riesige Chance für den Industriestandort Deutschland. Das müssen wir politisch unterstützen: durch einen CO2-Preis, der dafür sorgt, dass innovative und nachhaltige Bereiche wachsen und umweltschädliche schrumpfen. Und durch ein Ordnungsrecht, das Investitionssicherheit gibt, zum Beispiel indem man bei Autos nicht nur auf den CO2-Ausstoß am Auspuff achtet, sondern auf die gesamte Produktionskette davor. So würde es sich für VW lohnen, klimaneutralen Stahl von seinem Nachbarn der Salzgitter AG einzubauen. Und, ja, um Dumping durch chinesischen Stahl vorzubeugen, könnte man dann auch über Klimazölle diskutieren.

Kempf: Das halte ich für gefährlich. Viel besser wäre, wenn die Regierung die einfachsten und effizientesten Maßnahmen für den Klimaschutz vorantreiben und beispielsweise die energetische Gebäudesanierung stärker fördern würde. Und, Frau Baerbock, wir warnen davor, bei der Besteuerung der Energie- und Spritpreise die Ungleichheit zwischen Stadt und Land zu unterschätzen. Zwei Drittel der Industriearbeitsplätze befinden sich außerhalb der Städte.

Baerbock: Ich komme vom Dorf, mir muss niemand erklären, dass man Städte nicht mit ländlichen Räumen vergleichen kann. Natürlich wird man auf dem Land auf absehbare Zeit nicht ohne Individualverkehr auskommen. Aber gerade die Situation dort spricht doch dafür, Bahnstrecken auszubauen und Elektromobilität voranzutreiben. Dörfer und kleine Städte brauchen eine gute Anbindung.

„Wenn die 45 reichsten Menschen in einem Land so viel besitzen wie die unteren 50 Prozent der Gesellschaft, stimmt doch etwas nicht.“
Annalena Baerbock

WirtschaftsWoche: Apropos Ungleichheit: Hat Deutschland überhaupt ein Problem - und was genau müsste sich ändern?

Baerbock: Natürlich geht es uns im internationalen Vergleich als Land sehr gut. Aber innerhalb unserer Gesellschaft driftet es weiter auseinander. Wenn die 45 reichsten Menschen in einem Land so viel besitzen wie die unteren 50 Prozent der Gesellschaft, stimmt doch etwas nicht. Studien zeigen, dass in Ländern mit steigender Einkommensverteilung das Wohlbefinden abnimmt, und zwar auch im bessergestellten Teil der Bevölkerung. 23 Prozent der Menschen in Deutschland arbeiten im Niedriglohnsektor, mehr als in fast allen anderen europäischen Ländern.

WirtschaftsWoche: Herr Kempf, gibt es zu viele Niedriglohnjobs in Deutschland?

Kempf: Ich bin sofort damit einverstanden, dass es mehr hoch bezahlte Industriearbeitsplätze geben sollte. Tatsache ist aber auch, dass nicht jeder, der im Niedriglohnsektor arbeitet, keine Chance hat, einen besser bezahlten Job zu finden. Viele wollen zum Beispiel in Teilzeit arbeiten. Wir haben ein Steuerrecht, das leider mit dem Ehegattensplitting genau das begünstigt, was Sie beklagen: Paare mit ungleichen Gehältern sparen zwar Steuern, der Geringverdiener kürzt damit aber auch seinen Rentenanspruch.

WirtschaftsWoche: Also weg damit?

Baerbock: Das wäre ein gemeinsames Projekt!

Kempf: Ich habe eine andere Lösung: Ich würde ein Familiensplitting einführen, mit dem die Steuerersparnis nur von der Kinderzahl abhinge, nicht von der Ehe. Das Geld müsste zur Hälfte für die Rente angelegt werden. So würden wir die Altersarmut von Müttern verringern.

WirtschaftsWoche: Frau Baerbock, wenn der BDI Ideen gegen Altersarmut präsentiert - könnten Sie dann Ihrerseits nicht Steuersenkungen für Unternehmen unterstützen?

Baerbock: So wie eine Gießkannenförderung ökonomischer Unsinn ist, sind auch Blankoschecks für Steuersenkungen volkswirtschaftlich kontraproduktiv. An der Ungleichheit ändern sie nichts, genauso wie die Streichung des Soli. Das nützt überwiegend Menschen, die - wie ich - höhere Einkommen haben.

Kempf: Einspruch. Für die Wirtschaft ist der Soli ein riesiges Thema. Nur die komplette Streichung würde überhaupt Unternehmen entlasten. Das Problem bei der Umverteilung ist: Entweder sie nützt vielen, die sie gar nicht brauchen wie zum Beispiel bei der Mütterrente. Da bekommen auch wohlhabende Frauen mit Kindern mehr Geld. Oder es wird sehr bürokratisch, weil der Staat genau prüft, wem er hilft. Die aktuelle Regierung macht leider beide Fehler gleichzeitig, deshalb bleibt zu wenig Geld für Investitionen in Verkehr, Energienetze und digitale Infrastruktur. Sie hat aber die Pflicht, das Land besser zu machen.

WirschaftsWoche: Herr Kempf, stellen Sie sich eigentlich auf Neuwahlen ein? Und auf Frau Baerbock als Ministerin?

Kempf: In Personalfragen mischen wir uns nicht ein. Aber Sie können davon ausgehen, dass wir immer gut vorbereitet sind.

WirtschaftsWoche: Frau Baerbock, womit rechnen Sie? Wie lange hält die Koalition noch durch?

Baerbock: Wie lange die Koalition noch will, das muss sie selbst mit sich ausmachen. Wenn sie weiterregiert, muss sie liefern. Stillstand ist in dieser hochpolitischen Zeit Gift für unser Land und Europa.