Coronavirus

Das Recht auf Bildung: Hin zu einem Regelbetrieb an Kitas und Schulen unter Pandemiebedingungen

Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, welche Rolle Kitas und Schulen für Kinder und für die Gesellschaft spielen. Es muss uns Auftrag sein, die bestehenden Probleme bei Betreuung und Bildung anzugehen und aus den Erfahrungen der Krise zu lernen. Ein Impuls von Annalena Baerbock

Papier vom 10.6.2020, aktualisiert im August 2020

Die von mir im Juni anlässlich des grünen Kita- und Schulgipfels geforderte Rückkehr zu einem Kita- und Grundschul-Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen ist zum Glück in allen Bundesländern erfolgt bzw. für nach den Sommerferien geplant. Wurden in den ersten Monaten der Corona-Krise die Belange von Kindern und Eltern stark vernachlässigt, hat sich, nicht zuletzt aufgrund des großen Drucks von Eltern, Kinderärzt*innen, Verbänden, einzelnen Politiker*innen usw. die Haltung bei den Verantwortlichen in Bund und Ländern etwas gewandelt: Mehrheitlich geteiltes Ziel ist es nun, selbst bei aufflammendem Infektionsgeschehen alles dafür zu tun, eine erneute flächendeckende Schließung von Kitas und Schulen zu verhindern. Das ist gut so!

Denn geschlossene Bildungseinrichtungen führen zu massiver Ungleichheit. Jeder Tag, an dem Kita und Schule nicht stattfinden dürfen, verschärft die soziale Ungerechtigkeit. Das Recht von Kindern auf Bildung, Spiel, auf Teilhabe und die Wahrnehmung der staatlichen Fürsorgepflicht dürfen nicht vom Wohnort abhängen. Deshalb ist es weiterhin dringend notwendig, bei Entscheidungen über Schutzmaßnahmen in der Pandemie die Bedürfnisse, Interessen und Lebenschancen von Kindern frühzeitig in den Blick zu nehmen sowie die starke Belastung von Familien, Eltern, Erzieher*innen und Lehrkräften zu berücksichtigen.

Kinder brauchen Kinder. Bildung ist mehr als Matheaufgaben per Email, und Kitas und Schulen sind nicht nur Bildungseinrichtungen, sondern auch wichtige Lebensorte. Diesen Prinzipien müssen wir Rechnung tragen und einen Regelbetrieb von Schulen und Kitas unter Pandemiebedingungen gestalten. Unser Ziel muss es sein, einen verlässlichen Kita- und Schulbetrieb zu gewährleisten, der Infektionsschutz und Bildungschancen in Einklang bringt.

Auch wenn klar ist, dass jede Kita oder Schule in einer individuellen Situation ist, was Ausstattung, Personal, Räume angeht; auch wenn klar ist, dass die Zuständigkeiten in diesem Feld sehr zersplittert sind: Es bedarf bundesweit klarer Leitlinien, die sicherstellen, dass für jedes Kind in diesem Land das Recht auf Bildung gilt.

Die Bundesregierung und die Kultusministerien haben es bisher versäumt, ihr Vorgehen in Sachen Schul- und Kita-Öffnungen ausreichend abzustimmen. Das reichlich späte Treffen der Kanzlerin und Bildungsministerin mit einigen Kultusminister*innen Mitte August hat noch nicht die notwendigen Ergebnisse gebracht. Wir fordern einen echten Bildungsgipfel unter Beteiligung relevanter Akteurinnen und Akteure. Auf diesem müssen gemeinsame Leitlinien und die Entwicklung bundesweiter Standards und Handreichungen für Präventionskonzepte festgelegt werden, auf deren Grundlage die Länder und Schulen jeweils eigene Pläne entwickeln. Für den Fall von erneuten Schulschließungen muss es konkrete gemeinsame Leitlinien für Länder und Schulen geben. Zudem sollte das Robert-Koch-Institut bundesweite Standards und Handreichungen für Präventionskonzepte entwickeln, auf deren Grundlage die Länder und Schulen jeweils eigene Pläne entwickeln.

Um die dann vereinbarten Leitlinien zu erfüllen, brauchen Schulen und Kommunen deutliche Unterstützung von Bund und Ländern. Eine klare Kommunikation ist unerlässlich, um Vertrauen zu schaffen. Zudem müssen wir Vorkehrungen für einen erneuten Anstieg der Infektionen treffen. Corona ist noch nicht vorbei. Auch wenn wegen plötzlich steigender Infektionszahlen Einrichtungen wieder geschlossen werden müssen, dürfen Kitas und Schulen nicht wieder ins wochenlange Chaos geworfen werden. Erneute flächendeckende Komplettschließungen müssen verhindert werden. Im Grundsatz muss der reguläre Umfang von Bildung und Betreuung gesichert werden. „Vorbereitet sein“ lautet das Gebot der Stunde.

1. Mindestanforderungen für einen Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen

Nach momentanem Erkenntnisstand sind Kinder keine Treiber des Infektionsgeschehens und Bildungseinrichtungen kein Ort größerer Ausbrüche. Basierend auf bisherigen Erkenntnissen ist bei Kindern und Jugendlichen eine geringere Infektionshäufigkeit, eine geringere durchschnittliche Erkrankungsschwere sowie ein deutlich geringeres Risiko für schwerste Verläufe zu beobachten. Vieles spricht zudem dafür, dass jüngere Kinder bis ca. 14 Jahre das SARS-CoV-2-Virus seltener als Erwachsene auf andere Menschen übertragen. Der häufig asymptomatische Verlauf bei Kindern ist aber auch eine Herausforderung für die Kontrolle des Infektionsgeschehens (1).

  • Es ist zentral, Schutzbestimmungen auf Erwachsene anzuwenden, also auf die Mitarbeiter*innen in den Bildungseinrichtungen und die Eltern. Das heißt, es sollte gewährleisten werden, dass Abstandsregeln zwischen ihnen eingehalten werden können und sie außerhalb des Unterrichts in Gebäuden Maske tragen. Eltern müssen dafür sensibilisiert werden.
  • Zugleich ist es sinnvoll, dort, wo Abstände schwer eingehalten und Gruppen nicht klar voneinander getrennt werden können, auch für Schüler*innen eine Maskenpflicht einzuführen. Im Unterricht hingegen scheint das im Moment unverhältnismäßig, da pädagogische Arbeit in besonderer Weise auf soziale Interaktion, Reden, Lächeln, Mimik usw. angewiesen ist. Dennoch müssen auch hier räumliche Gegebenheiten und Infektionszahlen im Blick behalten werden.
  • Alle Kinder sollten in ihrer gewohnten Gruppe/Klasse lernen. Dafür sind feste Gruppen nötig, innerhalb derer die Abstandsregeln aufgehoben sind; dafür werden die Gruppen aber möglichst strikt voneinander getrennt. Wichtig sind auch Lüftungskonzepte, weil die Übertragung v.a. durch Aerosole erfolgt.
  • Um Vertrauen zu schaffen und die Situation im Blick zu behalten, benötigt es Testkapazitäten für Fachkräfte analog zu den Pflegeeinrichtungen, mit denen Personal regelmäßig freiwillig sowie anlassbezogen und stichprobenartig getestet werden kann. Es braucht klare Abläufe bei Infektionsfällen und schnellen Zugang zum Testen („fast tracks“). Die Rechtsverordnung zum Testen muss ausgeweitet werden, so dass auch an Kitas und Schulen ohne Infektionsgeschehen mehr getestet werden kann.
  • Sobald Schnelltests verfügbar sind, sollten diese vorrangig für medizinische und Pflegeeinrichtungen sowie Bildungseinrichtungen zur Verfügung stehen.
  • Der Umgang mit Risikogruppen beim Personal muss vereinheitlicht werden: Die Frage, ob jemand zur Risikogruppe gehört und daher nicht im direkten Umgang mit Kindern arbeiten kann, sollte durch ein Attest bestätigt werden.
  • Auch der Umgang mit Erkältungssymptomen bei Kindern und Jugendlichen muss in den Bundesländern für alle Beteiligten klar geregelt werden. Wegen eines harmlosen Schnupfens soll kein Kind von Kita oder Schule nach Hause geschickt werden dürfen.
  • Nötig ist eine bundesweit abgestimmte wissenschaftliche Begleit-Evaluation, die die Ergebnisse aus den unterschiedlichen Bundesländern zusammenfassend bewertet.
  • Um sich für lokale oder regionale Infektionsgeschehen zu rüsten, braucht es Pandemiepläne für Kitas und Schulen, die kleinere Gruppen und feste Bezugspersonen vorsehen.
    • Ein Clustermanagement mit den jeweiligen Gesundheitsämtern ist nötig, um sich auf mögliches Ausbruchsgeschehen vorzubereiten.
    • In Kitas muss ein Mindestanspruch auf Betreuung für alle gesichert sein. Kein Kind darf erneut komplett ausgeschlossen werden. Formate zur Reduzierung des Betreuungsumfangs (z.B. vormittags/nachmittags) sind aufzustellen.
    • In Schulen brauchen Eltern, Kinder und Beschäftigte dauerhaft verlässliche Stunden- oder Wochenpläne auf Basis der Stundentafeln. An Schulen muss dann ggf. der Wechsel zu mehr Fernunterricht erfolgen. Dafür sind die digitalen Voraussetzungen zu schaffen.

Wichtig ist es, solche Unterrichts- und Betreuungs-Konzepte mit Hochdruck zu erarbeiten, damit sich die Situation von März-Juni 2020 für die Kinder nicht wiederholt.

2. Strukturelle Anforderungen

A.) Bildungsfonds auflegen zur Unterstützung von Kitas und Schulen

Für jede Kita, jede Schule ist die Situation eine individuelle Herausforderung, insbesondere beim Personal. Bund und Länder sollten gemeinsam einen Bildungsfonds auflegen, über den zusätzliches pädagogisches und nichtpädagogisches Personal finanziert wird, um die Personalsituation in den Kitas und Schulen zu entlasten. Besonders für Kinder aus benachteiligten Familien sind auch nachholende Angebote nötig. Pädagogisches Personal muss vorrangig auch für pädagogische Tätigkeiten eingesetzt und bei anderen Tätigkeiten entlastet werden (Aufsicht, Dokumentation, Organisation usw.). Aus dem Bildungsfonds sind Studierende mit pädagogischem Hintergrund, Personen im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), Lehramtsanwärter*innen und Erzieher*innen sowie Fachkräfte anderer Professionen (z.B. aus dem Kulturbereich) zu finanzieren. Diese bilden mit regulären Fachkräften Lernbegleitungs-Teams, um die Personalausfälle und den Aufwand für zusätzliche Coronamaßnahmen auszugleichen sowie an Schulen Präsenz- und Fernunterrichtsangebote möglichst reibungslos miteinander zu kombinieren. Bei einem anzunehmenden Personalausfall von 10% ist der Bildungsfonds mit bis zu 5 Mrd. Euro aufzulegen. Die Vermittlung dieser zusätzlichen Kräfte muss ähnlich wie beim Einsatz von Medizinstudierenden durch digitale Plattformen unterstützt werden.

B.) Digitale Offensive für unsere Bildungseinrichtungen

  • Die Pandemie hat uns gezeigt, wie groß der Nachholbedarf beim digitalen Lernen ist. Das betrifft die Ausstattung von Schulen, Lehrer*innen sowie Schüler*innen, aber auch didaktische Konzepte, Medienkompetenz usw. Digitales Lernen ist mehr als Zettel scannen und mailen, und viele Lehrkräfte haben mutig mit neuen Formen experimentiert. Daraus sollten wir die besten Ideen mitnehmen und weiterlernen.
  • Die Gestaltung und Begleitung des Fernunterrichts in Fällen eines verstärkten Infektionsgeschehens ist originäre Aufgabe der Schule, nicht der Eltern. Schulkinder haben Anspruch auf ein pädagogisches Angebot, das dem regulären Umfang entspricht – egal, ob es als Präsenz- oder Fernunterricht umgesetzt wird. Dafür sind die Voraussetzungen in allen Schulen zu schaffen.
  • Im Grundsatz gilt: je jünger die Kinder, desto wichtiger ist ein Präsenzangebot. Und: Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss einer pädagogischen Idee folgen, dann kann sie das Lernen vielfältig unterstützen, z.B. individualisieren.
  • Die digitale Infrastruktur der Schulen braucht ein schnelles Update. Dafür müssen 500 Millionen Euro aus dem Digitalpakt ohne aufwändiges Antragsverfahren jetzt schnell an die Schulen fließen. Die Kultusminister müssen sicherstellen, dass schnellstmöglich jede Schule WLAN und Lernmanagementsysteme zur Verfügung hat.
  • Jedes Schulkind muss zudem bei Bedarf einen Laptop oder Tablet in der Schule ausleihen können.
  • Bund und Länder müssen sicherstellen, dass schnellstmöglich die im Konjunkturpaket vorgesehene Ausbildung und Finanzierung des IT-Personals sowie die digitale Weiterbildung der Lehrkräfte auf den Weg gebracht wird.
  • Digitale Möglichkeiten sind auch für Kinder und Erwachsene, die zur Risikogruppe gehören, wichtig. Es müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Lehrkräfte, die nicht im direkten Kontakt mit Kindern eingesetzt werden können, direkt in die Klassenräume zugeschaltet werden können. Die Aufsicht in der Klasse sollte in solchen Fällen durch unterstützendes Personal (z.B. FSJler*innen) sichergestellt werden.

Insgesamt gilt: Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, welche Rolle Kitas und Schulen für Kinder und für die Gesellschaft spielen. Fallen sie weg, bricht ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft weg. Das muss uns Auftrag sein, die bestehenden Probleme bei Betreuung und Bildung anzugehen und aus den Erfahrungen der Krise zu lernen. Wir müssen Lehrpläne und Leistungsziele überprüfen, weitere Anstrengungen gegen den Fachkräftemangel und für kleinere Gruppengrößen unternehmen, Kita und Schule als Ort des gemeinsamen Lernens, Spielens und Miteinanders begreifen. Wir müssen Kitas und Schulen zu gut ausgestatteten Orten machen und die Chancen digitaler Bildung nutzen. Wer in wenigen Tagen Rettungspakete für angeschlagene Unternehmen auf die Beine stellen kann, muss auch für den essenziellen Bereich der Bildung mehr Kreativität, politischen Willen und Schwung aufbringen.

(1) Vgl. https://www.dakj.de/allgemein/... und auch https://www.leopoldina.org/upl... sowie https://edoc.rki.de/handle/176...