Blick nach vorn – Europas Angebot für eine neue transatlantische Agenda

Die Bundesvorsitzenden von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Robert Habeck und Annalena Baerbock stehen vor einer grauen Betonwand, rechts und links von ihnen sieht man auch Beton.
© Dominik Butzmann

Der Amtsantritt Joe Bidens gibt Europa und Amerika die Chance auf eine neue Zusammenarbeit. Wir sollten sie nutzen. Auch in Bezug auf China. Ein Gastbeitrag der Grünen-Vorsitzenden.

Einen Neubeginn haben Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris Amerika versprochen, Vertrauen in demokratische Institutionen zurück zu gewinnen und zusammen zu arbeiten statt weiter gegeneinander. Die Chance auf einen Neubeginn besteht auch für die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA, die durch die Regierung Trump ramponiert wurden. Demokratie, Menschenrechte und eine rechtebasierte Weltordnung bilden die gemeinsame Wertebasis, auf der die Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA gründet – bei allen Widersprüchen. Wir sollten die historische Chance dieses Moments nutzen, um sie wiederzubeleben und zu stärken. Zugleich muss Europa, erst Recht nach der Vollendung des leidigen Brexit, große Anstrengungen für mehr strategische Souveränität unternehmen.

Die neue amerikanische Regierung steht in erster Linie vor riesigen innenpolitischen Herausforderungen. Die USA sind, wie Europa auch, von der Corona-Pandemie hart getroffen. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen sind verheerend. Darüber hinaus ist Amerika auf der Suche nach einer einenden Idee von sich selbst, die dieses riesige und zerrissene Land wieder zusammenführen kann.

Joe Biden hat nicht nur versprochen, die USA aus der Pandemie-Krise heraus zu führen, sondern es besser zu machen, Wirtschaft und Gesellschaft krisenfest und klimaneutral umzubauen und dabei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schützen und zu stärken (build back better). Das soll auch der europäische Weg sein, der mit dem Green Deal eingeleitet wurde. Nach vergeudeten Jahren der Disruption, Abwicklung und geopolitischer Selbstverzwergung stehen wir heute auf beiden Seiten des Atlantiks vor ähnlichen Herausforderungen und haben zugleich die gemeinsame Chance, einen neuen demokratischen Gesellschaftsvertrag zu schließen: eine neue ökologische, ökonomische und soziale Agenda.

Das Zeitfenster für diese Agenda öffnet sich jetzt. Dies ist das entscheidende Jahrzehnt, eine klimaneutrale Wirtschaft auf den Weg zu bringen, unsere Industrie für die Zukunft zu rüsten und die Globalisierung fairer zu gestalten. Nur gemeinsam können Europa und Amerika global eine demokratische Alternative zum autoritären Hegemonialstreben Chinas bilden und ein Anker der Aufklärung, Prosperität und Stabilität in der Welt werden.

Der Übergang von Trump zu Biden im Weißen Haus ist für Europa ein Grund zur Freude, aber kein Grund, sich erleichtert im Sofa zurückzulehnen. Gerade jetzt, in diesen herausfordernden Tagen des Neuanfangs in den USA ist der Moment für Europa, Amerika ein ambitioniertes Angebot für eine erneuerte transatlantische Agenda zu unterbreiten.

1. Build back better

Joe Biden hat ein Versprechen mit Klimaschutz als dem Motor für Wirtschaftswachstum und Wohlstand gemacht und mit einem 1,9 Billionen-Dollar-Programm dazu ambitionierte Pläne vorgelegt. Dazu gehören massive Investitionen in Erneuerbare Energien, Infrastruktur und Mobilität, in das Gesundheitssystem, sozialen Wohnungsbau und in Schulen und Kitas. Biden will Amerikas Wirtschaft auf einer neuen Spur wieder voran bringen und so die soziale Spaltung um Land verringern. Hier kann die EU mit ihrem Green Deal anknüpfen und ihre Kräfte gemeinsam mit den USA bündeln.

Build back better bedeutet auch, gemeinsam die internationalen Institutionen zu stärken. Die Corona-Pandemie hat uns allen vor Augen geführt, dass nationale Maßnahmen bei der Bewältigung globaler Krisen zu kurz greifen. Nachdem Präsident Biden Amerikas Rückkehr in die WHO eingeleitet hat, sollte die EU eine transatlantische Initiative zur Reform und Stärkung der WHO vorschlagen. Parallel sollten EU und USA die Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Staaten stärken, um die Widerstandsfähigkeit gegen zukünftige Pandemien zu erhöhen. Dazu gehören eine Stärkung der staatlichen Gesundheitssysteme sowie die gemeinsame Produktion und solidarische Verteilung von medizinischer Ausrüstung, Medikamenten und Impfstoffen. Dabei sollte die Solidarität mit ärmeren Staaten im Fokus stehen.

2. Transatlantische Allianz für Klimaneutralität

Als eine seiner ersten Amtshandlungen hat Präsident Biden die Rückkehr der USA zum Klimaabkommen von Paris eingeleitet und angekündigt, Klimaschutz zu einem Schwerpunkt seiner Präsidentschaft zu machen. Keine andere Partnerschaft weltweit kann so entscheidend für die Einhaltung der Pariser Klimaziele sein wie eine transatlantische Allianz für Klimaneutralität. Eine enge transatlantische Zusammenarbeit erhöht die Chancen, im Rahmen multilateraler Formate auch mit China gemeinsame Produktstandards zur Förderung von Schlüsseltechnologien im Bereich Energieerzeugung, Mobilität und Industrie zu setzen.

Die EU-Kommission sollte einen Vorschlag für einen gemeinsamen CO2-Grenzausgleichsmechanismus ausarbeiten und die neue US-Regierung dazu einladen, eine transatlantische Handelszone für Klimaneutralität zu schaffen, die auch offen für andere Staaten sein sollte.

Mit dem Green Deal der Europäischen Union und den ambitionierten Plänen von Biden und Harris für eine klimaneutrale Wirtschaft gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Schaffung gemeinsamer, transatlantischer Produktstandards, für Investitionen in Forschung und Entwicklung und neue Allianzen mit der Privatwirtschaft. Das gilt beispielsweise für den Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur zur Reduzierung von Prozessemissionen für klimaneutralen Stahl und Zement sowie für gemeinsame Standards, Finanzierungsmodelle und den Ausbau von Produktionskapazitäten für Batterien, Batterie-Recycling und Ladeinfrastruktur von Elektromobilität.

Für die anstehende Klimakonferenz in Glasgow (COP26) müssen Europa und die USA deutlich ambitioniertere CO2-Einsparziele und eine Verständigung auf eine ambitionierte Klimaschutzfinanzierung vorlegen. Dafür sollte eine US-amerikanisch-europäische Arbeitsgruppe auf Minister*innenebene gemeinsame Ziele erarbeiten.

Parallel sollten Ziele einer gemeinsamen Klima- und Energieaußenpolitik unter Einbindung der jeweiligen diplomatischen Dienste, Entwicklungsorganisationen und -banken formuliert werden, unter anderem mit dem Ziel einer konstruktiven Einbindung Chinas und der deutlichen Reduzierung von Kohlefinanzierung in Schwellen- und Entwicklungsländern und als Gegenentwurf zur chinesischen Seidenstraßeninitiative.

3. Digitalisierung

Bei der Digitalisierung liegt ein großes transatlantisches Kooperationspotenzial. Sowohl im Kongress wie in der EU gibt es Bestrebungen, die Marktmacht der großen Internetmonopole zu zerschlagen oder zu begrenzen. Hier sollte eine transatlantische Initiative ansetzen. Die EU und USA sollten zügig eine Einigung auf eine Digitalkonzernsteuer erzielen, um gemeinsame die Regulierung und Besteuerung der großen Tech-Konzerne zu erreichen.

Auch die Bekämpfung von Falschinformation und von Hass im Netz sollte im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten gemeinsam angegangen werden. So ähnelt die kalifornische Privatisierungsgesetzgebung für die digitale Welt der EU-Gesetzgebung zum Schutz der Privatsphäre im Netz. Präsident Biden hat bereits signalisiert, in diesem wichtigen Bereich den Europäer*innen die Hand zu reichen. Diesem Vorhaben sollten die EU-Staaten große Priorität einräumen. Denn Technologie, die unsere Demokratie untermauert und zugleich gefährdet, muss staatlich reguliert werden. Ein erster Schritt wäre ein Digitaler Verantwortungskodex für Unternehmen. Mit dem Digital Services Act (DSA) der EU gibt es einen Ansatz zur Regulierung von digitalen Plattformen, der zum internationalen Standard werden kann.

Zudem sollten gemeinsame Standards für Künstliche Intelligenz und Innovation etabliert werden, die den Menschen in den Mittelpunkt von Innovationen stellen. Durch das Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz liegt Europa hier vorne mit umsetzbaren Vorschlägen zur Regulierung von Algorithmen. Diese schon in der Praxis bewährten Ansätze können als Ausgangspunkt für eine gemeinsame Regulierung dienen.

Auch für Plattformen, die Innovationen und Wettbewerb verhindern, brauchen wir transatlantische Regeln und Standards. Der Digital Markets Act (DMA) ist hier von großer Bedeutung für ein gemeinsames Verständnis.

4. Demokratie und Rechtstaatlichkeit

Nicht nur in den USA, sondern auch in der EU werden demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien seit längerem von innen angegriffen. Nicht umsonst versucht die EU derzeit, mit dem Rechtsstaatsmechanismus gegen den Abbau einer unabhängigen Justiz oder die Einschränkung einer freien Presse wie in Ungarn vorzugehen. Europa und die USA sollten dies zum Anlass nehmen, eine gemeinsame Agenda für widerstandsfähige Demokratien vorzulegen, die die Stärkung demokratischer und rechtsstaatlicher Standards im Innern sowie Abwehrmechanismen gegenüber autoritären Staaten zum Ziel hat. Gemeinsame Initiativen für eine bessere globale Governance wie der von Präsident Biden vorgeschlagene Summit of Democracies und die gegründete Allianz für den Multilateralismus sind dafür gute Anknüpfungspunkte.

Handel

Wir befinden uns in einem globalen Systemwettbewerb zwischen demokratischen und autokratischen Systemen. In diesem Wettbewerb kommt es entscheidend darauf an, ob eine gute Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA möglich ist. Es braucht eine gemeinsame Strategie im Umgang mit China. Die Rivalität mit autokratischen Staaten geht weit über wirtschaftspolitische Fragen hinaus, sie ist eine substanzielle Frage von Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Ökologisierung gegenüber illiberalen, repressiven Systemen. Deshalb ist es entscheidend, dass diese Werte harte Kriterien unseres Freihandels werden. Handel ist ein mächtiger Hebel, um Menschenrechte und demokratische Grundwerte zu verteidigen und zu stärken. Das EU-China-Investitionsabkommen, das die Bundesregierung Ende letzten Jahres im Hauruck-Verfahren durchgedrückt hat, widerspricht bedauerlicherweise genau diesem Ziel.

Europa sollte die Chance ergreifen, in einen intensiven Austausch mit der neuen US-Regierung zur Förderung von Handel und Investitionen mit hohen Umwelt- und Sozialstandards einzutreten, um mit dem transatlantischen Wirtschaftsraum globale Standards setzen zu können. In der WTO, in den internationalen Finanzinstitutionen wie in den G20 sollten sie gemeinsam eine Initiative für Green Investments starten.

Es ist zudem an der Zeit, den Konflikt zwischen Airbus und Boeing beizulegen, die amerikanischen Zölle gegen Aluminium und Stahl aus der EU aufzuheben und wiederum Industriesubventionen und staatseigene Unternehmen härter zu regulieren.

Sicherheit

Der sicherheitspolitische Fokus der USA wird sich auch mit Präsident Biden nicht wieder zuvorderst auf Europa richten. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen selbst mehr außen- und sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen. Das gilt insbesondere in unserer eigenen Nachbarschaft, wenn wir nicht weiter passiv zuschauen möchten, wie Russland, die Türkei oder China ihren Einfluss sukzessive ausbauen. Die Sicherheit der östlichen Nachbarländer der EU sollte mit einem Eastern Partnership Security Compact gemeinsam gestärkt werden.

Um die Unabhängigkeit und Sicherheit der Ukraine nicht weiter zu gefährden muss Nord Stream 2 gestoppt werden. Zugleich sollten die USA ihre Sanktionen als Reaktion auf Nord Stream 2 aufheben.

Nach Jahren substanzloser Debatten um das Zwei-Prozent-Ziel braucht es eine strategische Neuaufstellung und ein neues, breiteres Konzept der Lastenteilung innerhalb der NATO.

Denkbar wäre der Aufbau eines Europäischen Cybersicherheit-Zentrums, um die Fähigkeitslücken in Europa in diesem Bereich zu schließen und den europäischen Beitrag an der Lastenteilung zu stärken. Das neue Kompetenzzentrum für Cybersicherheit der EU kann hierfür eine gute Grundlage sein.

Europa und die USA sollten zudem dringend das Atomabkommen mit dem Iran (JCPOA) reparieren und sich gemeinsam für die Fortsetzung des New-Start-Vertrages einsetzen, um ein nukleares Wettrüsten im Nahen Osten zu verhindern.

Schließlich ist es Zeit für eine neue gemeinsame Abrüstungs- und Rüstungskontrollinitiative, die neben Russland auch China einschließen und nukleare wie konventionelle Rüstung betreffen muss.

Die letzten Jahre waren sowohl in den USA als auch in Europa von inneren Auseinandersetzungen geprägt, einem Verlust an Einfluss auf globaler Ebene und einem Verlust von Gemeinsamkeiten. Doch nirgendwo steht geschrieben, dass es so weitergehen muss. Europa und die USA haben eine lange gemeinsame Tradition, und die Agenda der gemeinsamen Aufgaben ist gewaltig. Gemeinsam können wir daher dieses neue Jahrzehnt prägen, zum Wohle der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks, zur Bewältigung globaler Herausforderungen und zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weltweit. Die Größe der Herausforderungen, die vor uns liegen, sollte die Messlatte unserer politischen Ambitionen sein. Gemeinsam können wir viel bewegen. Fangen wir an.

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