Corona-Krise

Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche

braunhaariges Kind liest ein Buch.
© Johnny McClung/Unsplash

Studien zeigen, dass jedes fünfte aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter Bildungsbenachteiligung leidet und im Homeschooling durch Bildungsangebote nur noch schwer oder gar nicht erreicht werden kann. Daher braucht es jetzt einen Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche inklusive eines bundesweiten Anspruchs auf Corona-Förderung bei Lernrückständen. Ein Impulspapier.

Die Corona-Pandemie trifft uns alle, aber sie trifft uns nicht alle gleich. Seit dem ersten Lockdown im März lernen alle Schülerinnen und Schüler unter ungewohnten, unter erschwerten Bedingungen. Aber nicht alle sind dadurch gleichermaßen betroffen. Studien zeigen, dass jedes fünfte aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter Bildungsbenachteiligung leidet und im Homeschooling durch Bildungsangebote nur noch schwer oder gar nicht erreicht werden kann. Diese Kinder verpassen Schulstoff und verlernen Gelerntes. Sie fallen zurück und durchs Raster.

Schon vor Corona hatte unser Bildungssystem ein Gerechtigkeitsproblem. Und nun erleben Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen, wir alle, wie sich die Ungleichheit tagtäglich verschärft – mit fatalen Folgen.

Kinder und Jugendliche haben eigene Bedürfnisse, ein Recht auf Kindheit, ein Recht auf Bildung. Sie sind die Staatsbürgerinnen, die Demokraten, die Arbeiternehmerinnen von morgen. Wir haben ihnen gegenüber die Pflicht, ihnen auch in dieser Pandemie Bildung, gleiche Chancen und Teilhabe zukommen zu lassen. Und zwar allen. Daher braucht es jetzt einen Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche inklusive eines bundesweiten Anspruchs auf Corona-Förderung bei Lernrückständen.

Ohne Frage gilt: In der aktuellen Corona-Situation ist absolute Vorsicht geboten. Jeder Nicht-Kontakt zählt, und es hat sich gezeigt, dass auch Schulen, gerade der älteren Jahrgänge, Treiber der Infektion sein können. Zugleich können wir nicht hinnehmen, dass wir Teile einer ganzen Generation verlieren, weil Bildungspolitik in dieser Zeit immer zu kurz kam, und die Verantwortung für einen funktionierenden digitalen Unterricht, sichere Klassenräume und den Anspruch, jeden Schüler zu erreichen, – durch die föderalen Strukturen – von oben nach unten weitergegeben wurde. Das betrifft nicht nur die Kinder und Jugendlichen selbst, sondern gefährdet unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Im dritten Corona-Halbjahr müssen wir sicherstellen, dass jedes einzelne Kind erreicht wird. Das heißt nicht, dass jedes Kind wieder zu Schule kommen muss, sondern dass jedes Kind ein Bildungsangebot bekommt. Es geht hier um Kinder, die zu Hause nach wie vor keinen digitalen Zugang haben und so nicht am Distanzunterricht teilnehmen können. Kinder, deren Eltern beim Homeschooling nicht helfen können – während sich andere Familien zur Unterstützung private Nachhilfe leisten. Schüler*innen, die zwar eine Möglichkeit zur Teilnahme in der Notbetreuung hätten, deren Eltern aber daran scheitern, sie dafür anzumelden. Die Konsequenzen sind für diese Kinder fatal: Grundschüler*innen, die das komplette Alphabet oder Einmaleins vergessen haben. Andere Kinder, denen die Tagesstruktur weggebrochen ist, die von ihren Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen nicht mehr erreicht werden, denen das Schulessen fehlt.

Bildung darf auch in einer Pandemie kein Privileg sein. Wenn wir jetzt nicht handeln und einen Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche spannen, verschärft sich die Chancenungleichheit nicht nur weiter, sondern wird auf lange Sicht manifestiert. Parallel gehen die Lehrkräfte auf dem Zahnfleisch und müssen sich orientierungslos und ohne systematische Unterstützung von einer Woche zur nächsten hangeln.

So wie auch in den Impfzentren Ende Dezember alle bereit standen, muss nun dasselbe für die Schulen gelten. Nur weil eine solche Offensive seit einem Dreivierteljahr überfällig ist, heißt das nicht, dass sie deswegen jetzt nicht kommen darf. Auch wenn Bildung prioritär Ländersache ist, sind nun alle gefragt. Im Sinne eines Bildungsschutzschirms sind jetzt zuvorderst folgende zwei Handlungsfelder anzugehen, die die KMK mit konkreten Instrumenten untermauern sollte, so dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern diese auf der nächsten MPK beschließen kann:

1. Materielle Voraussetzungen für flexibles und sicheres Lernen schaffen

Damit die Schulen wieder schrittweise öffnen können, müssen die Voraussetzungen überall dafür geschaffen werden, dass Unterricht auch sicher möglich ist: In Kleingruppen, im Wechsel zwischen Präsenz- und Digitalunterricht. Und zwar beginnend bei den Kleinsten: von den ersten beiden Klassen und Förderschülern über die weiteren Grundschulklassen bis zu den weiterführenden Schulen. Dafür braucht es:

  • Ein Sofortausstattungsprogramm des Bundes für die Organisation einer funktionierenden Infrastruktur an Masken und Schnelltests. Corona-Schnelltests zur Selbstanwendung (die es mittlerweile auch als Spucktests gibt) müssen vom Bundesgesundheitsminister unverzüglich zugelassen werden, sodass diese mit der schrittweisen Öffnung der Schulen dort regelmäßig eingesetzt werden können. Außerdem müssen genügend FFP2-Masken für Lehrkräfte zur Verfügung stehen.
  • Weitere Lernräume außerhalb von Schulen sollten dabei helfen, Lernen in kleinen Gruppen zu ermöglichen: Bibliotheken, Seminarräume, Kunsthallen, Museen und andere während der Pandemie ungenutzten Räumlichkeiten.
  • Für den Schülerverkehr sind private Busunternehmen zusätzlich anzumieten, um Überfüllungen zu vermeiden und zugleich gestaffelte Schulzeiten abdecken zu können.
  • Da es noch einige Zeit bis zur kompletten Schulöffnung braucht und selbst dann Klassen geteilt werden müssen, wird der digitale Unterricht noch länger relevant sein. Die diesbezüglichen technischen Defizite müssen – von der Bundesregierung koordiniert – zusammen mit den Kommunikationsanbietern dringend behoben werden. Klassenräume mit schlechten Internetverbindungen sollten über GigaCubes, Speedboxen und ähnliche Router schnelles WLAN bekommen. Die Länder brauchen endlich schlanke, offene, nutzerbezogene und datenschutzkonforme Anwendungen für den Digitalunterricht. Statt einer zentralen Plattform kann als Zwischenschritt auch ein Paket von Anwendungen genutzt werden, um das digitale Lernen zu ermöglichen. Für Anwendungen wie Videokonferenzen sollte zu Spitzenzeiten, in denen hunderttausende Schüler*innen zeitgleich online sind, auf Serverkapazitäten bei sicheren externen Anbietern zurückgegriffen werden, um diese stabil zu gewährleisten. Dabei kann auf das Wissen und die Unterstützung von zahlreichen spezialisierten, mittelständischen Anbietern in Deutschland zurückgegriffen werden. Für die Gewährleistung guter Lerninhalte sollte das MUNDO-Projekt des Bundes beschleunigt und die Inhalte allen Ländern als OER zur Verfügung gestellt werden. Schulen in Regionen ohne Netzabdeckung müssen über leihweise bereitgestellte MRT-Geräte (Mobile Radio Trailer), wie sie sonst bei großen Festivals und Veranstaltungen eingesetzt werden, mobiles Internet bekommen. Ein großangelegtes Fortbildungsangebot in digitaler Bildung für pädagogische Fachkräfte sollte nun zügig auf Länderebene geschaffen werden.
  • Oft mangelt es benachteiligten Schüler*innen zuhause an technischer Infrastruktur. Eine Familie, die an der Armutsgrenze lebt, hat wegen negativer Bonitätsprüfung häufig keine Chance, einen Internet- oder Mobilfunkvertrag abzuschließen oder kann ihn schlicht nicht bezahlen. Die Bundesregierung und Kultusminister*innen sollten daher jetzt auf die Angebote der Mobilfunkanbieter für Bildungsflatrates (Mobilfunkanschlüsse) mit „Education Pass“, also freiem Zugang zu Lerninhalten, zurückgreifen. Entsprechende SIM-Karten stehen kurzfristig und in großer Anzahl zur Verfügung. Jedes benachteiligte Kind braucht nun ein Anrecht auf einen Laptop und über das Sofortausstattungsprogramm muss auch jeder Lehrkraft ein Laptop zur Verfügung gestellt werden.
  • In einer Situation, in der die Beschulung von Kindern nur absolut eingeschränkt stattfinden konnte und Lehrkräfte am Limit sind, muss dringend Druck aus dem Schulsystem genommen werden. Um die Lehrkräfte zu entlasten und Kapazitäten zu schaffen sollten im kommenden Halbjahr die Anzahl der Klassenarbeiten deutlich reduziert und die starren Lehrpläne entschlackt werden, um sich mit dem gewonnenen Spielraum auf Rückstände konzentrieren zu können.

2. Kein Kind zurück lassen - Benachteiligte Kinder zuvorderst fördern

Unser Ziel muss sein, jedes Kind zu erreichen, das heißt, insbesondere die Kinder, die am stärksten vom Schulausfall betroffen sind, auch am stärksten zu unterstützen. Wir müssen alles dafür tun, damit Benachteiligungen ausgeglichen und Lernrückstände verringert werden, um Mindeststandards zu sichern.

  • Um dem Recht auf Bildung gerecht zu werden, muss ein bundesweiter Anspruch auf Corona-Förderung bei Lernrückständen etabliert werden. Denn jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. Klassenlehrer*innen sollten für die Schulleitung darlegen, welche Kinder aufgrund der Situation im letzten halben Jahr überdurchschnittlich hohe Lerndefizite haben, um diese besonders zu fördern.
  • Für den noch andauernden Lockdown bedeutet dies, dass Kindern, die in den letzten Wochen über den Distanzunterricht nicht erreicht wurden bzw. bei denen klar ist, dass sie massive Lerndefizite haben, in der Schule eine sichere Lernumgebung (Lernräume mit pädagogischer Begleitung) zu ermöglichen ist. Lehrer*innen sollten Guidelines an die Hand gegeben werden, um diese Schüler*innen zu identifizieren, sie besonders zu fördern und sicherzustellen, dass diese Kinder auch kommen.
  • Nach dem Lockdown bzw. im Wechselunterricht muss für benachteiligte Kinder in Kern- oder Prüfungsfächern Ganztagsunterricht eingerichtet und in den Osterferien zusätzliche Lernangebote in kleinen Gruppen organisiert werden. Zusätzlich sollte der Bund den Ländern Mittel für außerschulische Nachhilfe für benachteiligte Schüler*innen an die Hand geben. Auch für die Sommerferienzeit sollten verbindliche Lernangebote organisiert werden, damit für benachteiligte Kinder und Jugendliche bis dahin auch ein verbindliches Angebot besteht.
  • Voraussetzung für die nachhaltige Förderung benachteiligter Kinder ist die Ermittlung ihrer Lernrückstände. Daher sollten zeitnah im Frühjahr verpflichtende Lernstandserhebungen in den Grundschulklassen durchgeführt werden.
  • Für die Förderung benachteiligter Schüler*innen braucht es zusätzliches Personal. Auch hier sollte der Bund über das Bildungs- und Teilhabepaket Mittel bereitstellen, um Personal aus privaten Nachhilfeinstituten zu gewinnen. Masterstudierende in den relevanten Fächern sollten unter anderem als Bildungslotsen für die Unterstützung benachteiligter Kinder und für zusätzliche Kleingruppenangebote gewonnen werden. Hierfür ist ein attraktives Angebot für Studierende zu schaffen – beispielsweise neben der Vergütung ein Erlass der BAföG-Rückzahlung oder zusätzliche Credit-Points.
  • Das Patenprogramm „Menschen stärken Menschen“ des BMFSFJ hat ebenfalls gut funktionierende Strukturen und könnte über eine Aufstockung auf 50 Millionen Euro und eine Verstetigung des Programms schnell Erfolge bei der Förderung benachteiligter Kinder zeigen. Auch hier sollte der Bund die Mittel bereitstellen und eine schnelle Aufstockung und Vermittlung der Pat*innen vorantreiben.
  • Auch im Lockdown müssen die Angebote der Berufsorientierung, Jugendberufsagenturen und Übergangsberatungen ggf. digital wieder aufgenommen bzw. weitergeführt werden, damit junge Menschen auch unter den schwierigen Bedingungen den Start ins Berufsleben meistern können.