Atommüllendlager

Atommüll und das Prinzip Verantwortung

Porträtfoto eines Mannes.
© Nadine Stegemann

Die Debatte um die Endlagerung erinnert daran, dass Politik prinzipientreu sein muss, findet Robert Habeck.

Das Atommüllendlager, nach dem in Deutschland gesucht wird, soll die sichere Verwahrung für eine Million Jahre gewährleisten. Eine Million Jahre! Wie viele Eiszeiten werden in dieser Zeit gekommen und gegangen sein? Wie lange liegt der Zweite Weltkrieg nochmal zurück? Eine Million Jahre ist keine Zeitspanne, die man irgendwie verantworten kann. Das Gleiche gilt für die Verbrennung fossiler Energien. Die Erderhitzung wird über Jahrhunderte unseren Planeten verändern – Legislaturperioden sind dagegen lächerlich. Das zeigt überdeutlich, was wir brauchen: Nötig ist eine Ethik der Energie.

Ihr maßgeblicher Grundsatz ist in einem Buch angelegt, das vor gut 40 Jahren erschien und auf die grüne Bewegung starken Einfluss hatte: „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas. Es formulierte einen ökologischen Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Ein ethisches Prinzip, das Verantwortung zum Maßstab macht. Es muss leitend für unseren Umgang mit Energiegewinnung und den Folgen sein.

Neue Zeit, neue Verantwortung

Die Bilder der Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf, gegen Atommülltransporte nach Gorleben, gegen den Bau des AKW Brokdorf gehören zur Ikonographie der Bundesrepublik. Die Grünen haben sich stets als Teil des Widerstandes begriffen: Bundestagsabgeordnete saßen auf Schienen, spätere Minister wurden von Wasserwerfern verjagt. Dann kamen grüne Regierungsbeteiligungen, der Atomausstieg in der rot-grünen Bundesregierung, der Wiedereinstieg unter Schwarz-Gelb, und – nachdem Kanzlerin Angela Merkel ihren teuren Fehler unter dem Eindruck und dem Druck von Fukushima erkannt und korrigiert hatte – der Ausstieg vom Ausstieg aus dem Ausstieg. Es blieb aber die letzte offene Großfrage: die nach dem Standort des Atommüllendlagers.

Sie war ungelöst, schon bevor das erste Atomkraftwerk überhaupt ans Netz ging, und verhärtet, seit Gorleben Ende der siebziger Jahren als Endlagerstandort ausgewählt worden war, nicht, weil es der relativ sicherste Standort war, sondern weil es so praktisch in einem vermeintlichen Niemandsland lag, nahe der Grenze zur damaligen DDR. Doch das Wendland war kein Niemandsland; die Menschen dort, aber auch aus der gesamten Republik leisteten Widerstand, hartnäckig über Jahrzehnte. Der Widerstand flammte immer besonders auf, wenn Atommüll aus Wiederaufbereitungsanlagen in das Zwischenlager nach Gorleben transportiert wurde. Jeder Transport manifestierte die Entscheidung für den Standort Gorleben als Endlager. Der Knoten war fest, unlösbar. Die einen wollten Gorleben verhindern, die anderen das Gegenteil, auch, weil es für den Rest der Republik bequem war; dann müsste der Atommüll ja nirgendwo anders hin.

Zwei Entscheidungen zerschlugen diesen Knoten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann erklärte öffentlich, dass der Atommüll da untergebracht werden solle, wo er am sichersten sei, auch wenn dies Baden-Württemberg sei, sein Bundesland. Aber wohin mit den noch aus Großbritannien und Frankreich rückzuführenden Castoren? Schleswig-Holstein erklärte sich als erstes Bundesland bereit, einen Teil davon zu nehmen, andere schlossen sich an. Ich war damals Umweltminister, und der Entscheidung waren erhebliche, auch innergrüne Debatten vorausgegangen, ein Sonderparteitag, Wut und Tränen. Ausgerechnet die Partei, die mit „Atomkraft? Nein danke“ gegründet worden war, sollte nun „Atommüll? Ja bitte“ sagen? Aber es war und ist etwas völlig anderes, ob man Atommüll transportiert und ein Endlager sucht, um der Atomkraft eine Zukunft zu geben, oder ob man es tut, um die Geschichte der Atomkraft zu beenden. Diese Erkenntnis setzte sich am Ende durch.

Heute kann man sehen, dass diese für die Grünen so schwierige Debatte diejenige war, an der wir in die neue Zeit und in die neue Verantwortung gewachsen sind. Es wurde eine Endlagersuchkommission eingerichtet, ein Gremium aus Wissenschaft, NGOs, Landes- und Bundespolitikern, und am Ende stand eine konsensuale Einigung, wie die Endlagersuche abzulaufen hat. Zentral war, dass sie ergebnisoffen ist – und alle drei geeigneten Gesteinsarten, die es in Deutschland gibt, Salz, Ton und Granit, berücksichtigt werden. Das Endlager soll in einem immer wieder zu überprüfenden und transparenten Prozess unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gefunden werden. Fair im Verfahren, für alle nachzuvollziehen. Politische Einflussnahme soll ausgeschlossen sein.

Bayern und die „Nicht-bei-mir-Politik“

Schon während der Verhandlungen hat aber ein Bundesland den Konsens torpediert: Bayern, ein großer Nutznießer der Atomkraft. Die bayerische Landesregierung versuchte das Granitgestein, das vor allem in Bayern und Sachsen vorkommt, auszuschließen, mühsam hinter pseudowissenschaftlichen Argumenten versteckt. 2018 legte die CSU in ihrem Koalitionsvertrag mit den Freien Wählern fest, dass „Bayern kein geeigneter Standort für ein Atomendlager ist“. Nun stellt – in einer gewissen logischen Folge dieser „Nicht-bei-mir-Politik“ – der bayerische Umweltminister den bundesweiten Konsens zur offenen Suche in Frage. Und Ministerpräsident Markus Söder macht keinerlei Anstalten, dem Einhalt zu gebieten und sich zum Verfahren und zur gesamtstaatlichen Verantwortung Bayerns zu bekennen.

Wenn man als Ministerpräsident nicht bereit ist, auch für schwierige Entscheidungen, die das eigene Bundesland betreffen könnten, einzustehen, wie bitte sollen Landrätinnen und Landräte, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister dem Druck der Bevölkerung standhalten, wenn ihre Gemeinde Teil der Suchkulisse sein sollte? Wie will man von Ministerpräsident*innen aus anderen Ländern erwarten, dass sie das Suchverfahren unterstützen? Und wie von Bürger*innen, dass sie am Ende eine Entscheidung akzeptieren, auch wenn es zu ihren Lasten geht? So sehr die Grünen die Verantwortung für die Lösung eines schwierigen Problems suchen, so sehr gefährdet die CSU genau das. Ein Land drückt sich, und macht es allen anderen schwerer. Das ist das Gegenteil vom „Prinzip Verantwortung.“

Weiße Landkarte

Die Endlagersuche sieht ein Ausschlussverfahren vor. Man hat mit Deutschland als weißer Landkarte begonnen, dann wurden die Gebiete ausgenommen, die offensichtlich ungeeignet sind, wie jene mit vulkanischen Aktivitäten oder Gebirgsregionen mit jungem Grundwasser. Was dann bleibt, wird Ende September auf einer Karte veröffentlicht. Die Logik ist, dass die Gebiete, die noch nicht ausgeschlossen sind, weiter erkundet werden. Bis dann wenige Standorte identifiziert sind, die wirklich gegeneinander abgewogen werden. 2031 soll ein Standort gefunden sein. Aber die Sorge ist groß, dass jedes Gebiet, das nicht ausgeschlossen ist, gleich als „der neue Standort“ kommuniziert und wahrgenommen wird. Vermutlich werden am 29. September zig Regionalzeitungen mit der Überschrift aufmachen: „Kommt der Atommüll in unsere Region?“ Deshalb ist es so wichtig, dass alle bereit sind, Verantwortung zu tragen und sich hinter dem Konsens für ein faires Verfahren versammeln.

Es dauert ohnehin noch lange genug. Bis 2031 soll der Standort gefunden, etwa 2050 das Endlager fertig sein. So ein Endlager ist nicht einfach ein Deponieloch, sondern man kann es sich quasi wie eine Fabrik unter der Erde vorstellen. Dann wird es, so schätzt man, noch etwa 30 Jahre dauern, bis alle Castoren aus den Zwischenlagern ins Endlager gebracht sind. In der besten aller Schätzungen hat Deutschland das Problem Atommüll also in 60 Jahren gelöst. Es steht jedoch zu befürchten, dass es auch 100 bis 120 Jahre werden könnten. Dabei drängt die Zeit.

Zwischenlager: mit Sicherheit die unsicherste Lösung

Wenn bei uns Ende 2022 das letzte AKW vom Netz geht, werden sich etwa 15.000 Tonnen hochradioaktiven Mülls angesammelt haben. Solange es kein Atommüllendlager gibt, wird der Atommüll in 16 Zwischenlagern untergebracht, teils zentral, wie etwa in Ahaus und Gorleben, teils dezentral an den Atomkraftwerksstandorten: große Hallen mit dicken Betonwänden und einem Lüftungsschlitz. Die meisten wurden um das Jahr 2006 errichtet, die Genehmigungen laufen nach 40 Jahren, also um das Jahr 2046 aus.

Damit stellen sich zwei Fragen: Können diese Genehmigungen verlängert werden? Und sind die Standorte der Zwischenlager für eine neue Genehmigung die richtigen? Beide Fragen sind extrem politisch. Die Genehmigung ist jeweils an hohe Sicherheitsvorgaben gebunden. Die Zwischenlagerbetreiber müssen beweisen, dass ihre Hallen zum Beispiel gegen Terroranschläge, Flugzeugabstürze und Erdbeben gesichert sind – und die Bedrohungslage hat sich drastisch verändert. Ob also die Standorte nochmals ohne große Nachrüstungen genehmigungsfähig sind, ist mindestens zu bezweifeln.

Außerdem wurden die Standorte der Zwischenlager nicht nach Sicherheit, sondern nach Nähe zu den Atomkraftwerken ausgesucht. Was aber, wenn die Atomkraftwerke zurückgebaut sind, was ungefähr dann der Fall ist, wenn auch die Genehmigungen der Zwischenlager auslaufen? Die Zwischenlager stehen dann auf einer grünen Wiese, allerdings ist das fachkundige Personal aus den Atomkraftwerken nicht mehr am Standort. Also womöglich zwölf dezentrale Zwischenlager mit hochradioaktivem, gefährlichem Müll, bewacht von einem Sicherheitsdienst, nahe an Flüssen, weil Atomkraftwerke nun mal wegen des Kühlwassers da gebaut wurden. Wie lange? 10 Jahre? 50? Was, wenn sich die Endlagersuche zu lange hinzieht? Was, wenn es Großkonflikte, scharfe Wirtschaftskrisen, Instabilität gibt, die Klimakrise sich drastisch verschärft? Wer kann das schon über einen Zeitraum von Jahrzehnten ausschließen? Mit Sicherheit ist das die unsicherste Lösung.

Die Zeit arbeitet nicht für, sondern gegen mehr Sicherheit. Alle, die glauben, es wäre ein politischer Gewinn, die Suche nach einem Endlager zu verzögern, irren. Sie verschärfen nur das Problem zulasten des Schutzes der Menschen.

Abwägung auf einem Wertefundament

Beim Umgang mit dem Atommüll zeigt sich in besonderer Weise: Die einzige verantwortliche Energiepolitik ist eine, die auf Erneuerbare setzt, auf Energieeffizienz und weniger Verbrauch. Nur das ermöglicht, dass sich Entscheidungsträger den Konsequenzen ihrer Entscheidungen auch stellen. Die Debatte um die Endlagerung erinnert uns also daran, dass Politik prinzipientreu sein muss. Die täglich notwendige Abwägung muss auf ein Wertefundament bauen.